(Ge)Rede über die Krise

In Europa und der Welt spitzen sich die Probleme zu. Auch bei uns wuchern die Unsicherheiten. Es fehlt an Orientierung. Aber: Die Situation könnte auch ein Wendepunkt zum Besseren sein. Jetzt kommt es auf Sozialdemokraten an

Deutschland schaut sich um und an, verwundert. Aber doch, ja: Wir haben eine Krise. Wie kann das sein?

Oft zitiert: „Nur wenig ist von Dauer.“ „Das einzig Sichere ist der Wandel.“ Und, wohl wahr: „Nichts ist sicher.“ Es gibt auch Rückschritt, nicht nur Fortschritt. Gerade bekommen wir das zu spüren. Es ist ehrlich, es zuzugeben. Aber Krise? Es ist schwer, unter stark veränderten Bedingungen schwierigen Aufgaben gerecht zu werden und die Frage plausibel zu beantworten: Wie können wir diesen Wandel gestalten? Nochmal: Krise? Oder doch eher der Alltag des Sisyphos, dem der Stein gerade mal wieder hinunterrollt?

(Zwischenruf: Und was ist mit der AfD? Nach einer Minute immer noch nicht erwähnt! Kurze Antwort: Ist nicht vergessen. Aber auf uns kommt es an, wir sind am Zug.)

Wie auch immer – Wandel oder Krise. Wahr ist: Probleme spitzen sich zu, Unsicherheiten wachsen, es fehlt an Orientierung. Aber die Situation könnte auch ein Wendepunkt sein. Eine Gemengelage, in der sich Sozialdemokraten gefordert fühlen müssen.

Eigentlich geht es uns ja (noch) gut

Die Zuspitzung. Nach dem Ende des Kommunismus, der permanenten Atomwaffen-Bedrohung und der friedlichen Revolution in der DDR (die heute wie ein Wunder wirkt), dominierte die Freude an der eigenen Unübertrefflichkeit. Die soziale Marktwirtschaft werde sich verbreiten, hieß es, ebenso die Demokratie. Und der Frieden werde stabiler. Nun, vieles hat sich zunehmend als Illusion erwiesen.

Eigentlich geht es uns ja (noch) gut. Aber: Balkan, Ukraine, Umweltzerstörung, Finanzkapitalismus, Terror, ein uneiniges Europa, das gibt es alles. Und die Verteilung der Lebenschancen bei Bildung und Einkommen und zwischen reichen und armen Regionen ist auch bei uns ungleich. Aus 1,8 Milliarden Menschen auf der Welt vor 100 Jahren sind 7,5 Milliarden geworden, 2050 werden es etwa 10 Milliarden sein. Weltweit fliehen Millionen Menschen vor Lebensgefahr, Hunger, Unfreiheit. Menschen ertrinken im Mittelmeer. In großer Zahl kommen Flüchtlinge auch in unseren Städten an. Flüchtlingsunterkünfte brennen. Die Zuspitzung ist Realität.

Die Verunsicherung. Wie kann man die Situation in den Griff bekommen? Und wer ist hier gefragt? Dass die Gestaltungsmacht der internationalen Politik offenbar begrenzt ist, verstärkt die Unsicherheit. Und alles, Wichtiges und weniger Wichtiges, kommt natürlich bei uns an – vieles davon ungefiltert, unkommentiert, konfus. Die Zeit fehlt, nachzudenken und aufzuklären, vieles wird in seinen Verzerrungen belassen: Wozu der Sache auf den Grund gehen? Gleich gibt’s ja neue Aufreger, garantiert.

So wuchert die Verunsicherung. Dabei ist Sicherheit das tiefste Bedürfnis überhaupt. Die Wahrheit, dass totale Sicherheit nicht möglich ist, und zwar niemals, hellt die Sorgen nicht wesentlich auf. Man hat ja doch Erfahrungen: Die exklusive Rolle Deutschlands in einer hochgerüsteten bipolaren Welt simulierte lange Zeit Sicherheit. Die Irrlehre aus dieser Geschichte lautet: Wenn man sich nicht in fremde Konflikte einmischt und das Fremde so wenig wie möglich ins eigene Land lässt, erwächst daraus eigene Sicherheit. Also, Parole: Stadttore zu, Zugbrücken hoch. Wir sorgen für uns – der Rest der Welt (98,9 Prozent) muss selbst sehen, wie er klarkommt.

Der Orientierungsmangel. Wenn heute und morgen gelingen sollen, dürfen wir die Gefahren nicht ignorieren und die Chancen nicht verpassen. Wir müssen verstehen, was gerade passiert. Und wir müssen den Willen und die Zuversicht haben, den jetzigen Wandel im Sinne unserer Grundwerte zu gestalten. Wie wir es von unseren Altvorderen gelernt haben: Sagen, was ist, die richtigen Fragen stellen und mutig beantworten.

Das Entscheidende aber: Bei all dem handelt es sich nicht um eine geheime Mission für den allwissenden inneren Kreis. Dies müssen möglichst alle, auf jeden Fall aber viele Menschen wissen und begreifen. Nicht alle wollen dies, wohl wahr. Aber wahr ist auch: Nicht immer und nicht allen wird Orientierung leicht gemacht. Die Kommunikation ist unzureichend. Orientierung geschieht aber nicht durch Inspiration, sondern durch Information, das offene Wort, den Dialog oder Streit um den richtigen Weg. Die Menschen müssen die Grundwerte erfahren können, die unser Denken und Handeln bestimmen: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Unser Verbündeter heißt Aufklärung

Der Wendepunkt. Für die Wende haben wir einen einzigen wirklich verlässlichen Verbündeten, aber der ist mächtiger als alles andere: die Aufklärung. Der politische Kampf geht um die Macht auf diesem Feld. Es gibt da Feinde, die was anderes im Sinn haben als die verantwortungsvolle Selbstbestimmung der Menschen, ihre Freiheit also. Aber es gibt eine Mehrheit dafür – sofern wir um sie kämpfen. Familien und Schulen sind in ihrer Mitverantwortung nicht außen vor. Aber vieles auf diesem Feld können nur andere leisten:

Unsere Parlamente müssen sich intensiv und deutlich hörbar in die Debatte einmischen. Volksvertretungen sind nicht nur Gesetzgeber, sondern auch Orientierer. Der Bundestag muss die Fragen der Zuspitzung und Orientierung, der Vordringlichkeit und Nachhaltigkeit, aber auch die Gewissheit der Zuversicht zum Gespräch machen und im Gespräch halten. Auch wenn die Lösungen noch nicht alle parat liegen.

Und hier kommen unweigerlich die Parteien ins Spiel, die laut Grundgesetz bei „der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken“. Sie sind das Verbindungsglied zwischen Gesellschaft und Staat. Sie müssen auch die politische Volks-Hochschule sein. Statt aus den Präsidiumssälen heraus die Feinheiten der Gesetzgebungsarbeit mitbestimmen zu wollen, müssen sie die politische Debatte, das Gespräch über das Heute und das Morgen von Politik und deren Bedingungen vorantreiben.

Dies ist allerdings Bring- und Holschuld zugleich. Entgegen so mancher Kommentierung zu den Parteien weiß ich: In ihnen, nicht selten auch in kleinen Ortsvereinen, gibt es mehr politisches Wissen und größeren Verstand als in so manchen Gesprächsrunden führender Genossen! Mobilisiert die politische Bildungsarbeit der Sozialdemokratie! Es eilt! Und an die Nichtmitglieder: Gehen Sie hin, mischen Sie sich ein!

Auch die Medien sind von erheblichem Belang. Die klassischen Medien sind insgesamt gut. Wer will, kann dort die wichtigsten Fakten, die großen politischen und gesellschaftlichen Themen finden, auch sachkundige Kommentierungen lesen und hören und viele nützliche Hinweise. Die Medien sind ein wichtiger Teil jeder funktionierenden Demokratie: Sie bieten Orientierung und stärken die Urteilsfähigkeit.

Wohin soll gewendet werden?

Bleibt die Frage: Wendepunkt zu welchem Zweck? Wohin soll gewendet werden? In die Offensive sozialdemokratischer Art natürlich. Manches Erreichte ist zu verteidigen, manches ist fortzuentwickeln. Und einiges ist neu zu gestalten. Anknüpfungspunkte dafür bieten sich viele:

1949 sorgten Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat dafür, dass im Grundgesetz festgeschrieben wurde: Männer und Frauen sind gleich. 1959 machte die SPD die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zur Grundlage ihres Parteiprogramms und wurde so zur Volkspartei.

1969 versprach Willy Brandt, „mehr Demokratie“ zu wagen und dass wir gute Nachbarn sein wollen, im Innern wie nach Außen.

1989, als die Mauer fiel, durften auch wir stolz sein. Ohne Gorbatschow wäre es nicht zum Mauerfall gekommen. Und Kohl hatte Recht mit seiner Eile im Einheitsprozess. Aber ohne Brandts Wandel durch Annäherung wäre vieles nicht denkbar geworden.

1998 hat die SPD zusammen mit den Grünen und Gerhard Schröder an der Spitze eine Politik des aufgeklärten, sozialen und ökologischen Fortschritts begonnen. Es wurde eine epocheprägende Regierungszeit. Diese erfolgreiche Konstellation wäre weiter möglich geblieben, wenn sich nicht wenige Monate vor der Bundestagswahl 2005 aus PDS und WASG, faktisch für das Parlament, die Linkspartei gebildet und oppositionell verortet hätte.

Die Große Koalition ab 2005 bedeutete immerhin, dass die von der Union beschlossene fundamentale Neuausrichtung auf eine „Neue Soziale Marktwirtschaft“ und alles, was sich an Ideologie damit verband, bedingungslos aufgegeben werden musste. Da ging es um betriebliche Vereinbarungen statt Flächentarife, um Einschnitte bei der Tarifautonomie, um weniger Kündigungsschutz. Das alles gab es nun nicht. Die Große Koalition verlängerte die Politik von SPD und Grünen in den Bereichen Familienpolitik, Gleichberechtigung und Liberalität, unter anderem im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Paare. Heute gibt es bei all dem für die CDU kein Zurück mehr. Wenn die Unionsparteien vorerst zusammen bleiben, gibt es auch kein Zurück für die CSU. Die Union hat sich für ihre Politikkorrektur den Lohn der Regierungsspitze auf Zeit erobert. Aber diese Zeit gilt nicht für immer.

Wendepunkt in einer Zeit von Zuspitzung, Verunsicherung und Orientierungsschwäche kann nur heißen: ausdrückliches „Ja“ zum Grundgesetz und seinen zentralen Grundrechten. „Ja“ zur repräsentativen Demokratie, und „Ja“ zu freien Medien. Aber das genügt nicht.

Weiter abwarten ist keine Lösung

Die ökologische Frage ist weltweit als existenzielle Frage erkannt, auch wenn nicht schnell und gezielt genug gehandelt wird. Die soziale Frage zu beantworten, ist nicht leichter. Auch sie ist existenziell für die Menschheit. Soziale Sicherheiten müssen weltweit verbessert und garantiert werden. Gewalt und Terror, die soziale Unsicherheiten massiv verschärfen, müssen gestoppt, bekämpft und zurückgedrängt werden. Als starkes Land in der Mitte Europas muss Deutschland aktiv dazu beitragen, diese Aufgaben auch in Europa, zusammen mit den Gutwilligen anderswo, bewusst zu machen und dem Handeln Rückenwind zu geben.

Wir können nicht mal eben die Welt retten, schon klar. Aber wir können einen guten Teil dazu beitragen, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit in Deutschland, Europa und darüber hinaus zu stärken. Wir müssen begreifen, dass wir handeln müssen und nicht weiter abwarten dürfen, wie sich die Lage entwickeln wird. Denn dann werden wir ratlos vor den Ereignissen stehen.

Es geht keineswegs nur ums Europäische, Internationale. In der globalisierten Welt gewinnen die großen und die kleinen Einheiten an Gewicht, also auch die Städte und Dörfer. Und auch vor Ort ist die sozialdemokratische Idee „auf der Höhe der Zeit“, sodass Gutes bewirkt werden kann. Kommunen sind Unikate, die die Demokratie lebendig erhalten. Andersherum: Pleitekommunen sind ein systematisches Problem für die Demokratie und allein deshalb nicht akzeptabel. Sie sind mit im Blick, wenn die komplexen Aufgaben in den Bereichen Demografie, Integration und Migration gemeinschaftlich gelöst werden. Gemeinschaftsaufgabe ist ein gutes Wort dafür. Wir Sozialdemokraten werden das Land nicht weiter in reiche und in arme Regionen zerfallen lassen, sondern versuchen, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Landesteilen zu stabilisieren.

Die Gegner der repräsentativen Demokratie und wichtiger Grundrechte, von denen manche rechts und manche links ticken, machen gerade eine andere Front auf: die nationale, teils völkische Front, quer zum Links-Rechts-Schema traditioneller Art. Hinter dem Vorhang treffen sich die Populisten aller Lager zum nationalen Egotrip. Sie sind nicht ungefährlich, weil latent ansteckend. Aber sie sind die Minderheit und 2030 vergessen. Dazu muss aber die Demokratie gelingen. Wie gesagt, es kommt auf uns an.

Ich habe nochmal nachgedacht und komme zu dem Schluss: Es ist wirklich keine Krise – aber wir müssen uns daran machen, den dicken Stein aufzurollen.

PS: Und wie sieht demzufolge die Wahlkampfrede 2017 aus? Offen und klar. Wahlen gewinnt man nicht durch Versprechen, sondern durch Vertrauen. Im Übrigen: Wahlen kann man leichter verlieren als gewinnen. Das Risiko sucht sich gerade seinen Weg: Mit Seehofer sollten wir nichts mehr gemein haben wollen. Rechts von ihm gibt es ja kein freies Feld für eine andere Partei, wie er täglich erklärt. Also muss er selbst weit nach rechts. Wer seine Positionen teilt, muss rechtspopulistische Gegner der Demokratie (die es durchaus in Form von Parteien gibt) bedienen. Seehofers Verbindung zu Merkel reduziert sich aufs Taktisch-Strategische. Kann sein, dass kompetente Köpfe einmal klären müssen, ob unter diesen Bedingungen eine Fraktionsgemeinschaft und die Extras für Schwesterparteien überhaupt noch rechtens sind.

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