Flüchtlinge in der Provinz

Gast oder Last? Diese Frage stellt sich, wenn in ländlichen Regionen Flüchtlinge aufgenommen werden. Eine Situationsbeschreibung mit Beispielen aus der ostdeutschen Peripherie

Die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen folgt in Deutschland einer föderalen Logik: Nach einem Quotierungsverfahren auf Basis der Bevölkerungsstärke und Wirtschaftskraft werden die Geflüchteten auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Für die ersten Formalitäten im Rahmen der Asylantragstellung werden sie in einer so genannten Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht, die an eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gekoppelt ist. So möchte man kurze Wege für die amtliche Registrierung, die Gesundheitsuntersuchung und die Anhörung gewährleisten. Mindestens sechs Wochen, längstens drei Monate verbringen Flüchtlinge in der Aufnahmeeinrichtung, so schreibt es das Asylverfahrensgesetz vor. Anschließend werden sie für die Dauer des Asylverfahrens auf die Städte und Landkreise weiter verteilt, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Auch hier wird nach der Logik der Lastenteilung vorgegangen: Jeder kreisfreien Stadt und jedem Landkreis werden Flüchtlinge zugewiesen. Dies hat zur Folge, dass auch kleinere Gemeinden oder ländliche Regionen – besonders im Osten Deutschlands – oft zum ersten Mal mit der Anwesenheit von „Fremden“ konfrontiert werden. Dies ist nicht nur eine administrative und organisatorische Herausforderung, sondern stellt auch die Integrationsfähigkeit der lokalen Bevölkerung auf die Probe.

Ghettoeffekte sollen möglichst vermieden werden

Jüngst wurden Vorschläge laut, mehr Flüchtlinge in den Osten zu schicken, schließlich stünden dort massenhaft Wohnungen leer. Vor allem aus den ländlichen Regionen Ostdeutschlands sind seit der Wende viele Menschen weggezogen, meist die Jüngeren und besser Gebildeten. Könnten da Flüchtlinge nicht die Wohnungen wieder füllen – und damit auch die wachsende demografische Lücke? Ob diese Überlegungen realistisch sind, lässt sich an lokalen Fallbeispielen studieren, etwa im ländlichen Sachsen. Dort bemüht man sich seit Jahren, Flüchtlinge in dezentralen Unterkünften unterzubringen. Diese müssen den Unterbringungsstandards des Sozialgesetzbuchs II entsprechen und können von öffentlichen und privaten Akteuren angeboten werden. Die Entscheidung darüber trifft die Landesbehörde in Abstimmung mit den kommunalen Entscheidungsträgern. Viele Kommunen achten bei der Wohnungsauswahl auf eine günstige Streuung über das Gemeindegebiet, so dass keine Ghettoeffekte entstehen, die Proteste aus der Nachbarschaft anheizen könnten. Viele Gemeindeoberhäupter haben dabei auch die rechte Szene im Auge, der man keinen zusätzlichen Zulauf durch unzufriedene Bürger bescheren möchte.

Es fehlt an sozialer Infrastruktur

Ein wichtiges Kriterium für die Standortentscheidung ist die Infrastruktur vor Ort – ein Problem besonders in der ländlichen Peripherie. Der Bevölkerungsexodus der vergangenen Jahrzehnte hat einen massiven Rückbau öffentlicher Infrastruktur nach sich gezogen: Schulen, Kitas und Bibliotheken wurden geschlossen, Buslinien eingestellt. Bildungsangebote wie die für die Integration so wichtigen Deutschkurse, Arbeitsmöglichkeiten, medizinische und psychotherapeutische Betreuung – all das ist in den Schrumpfregionen Mangelware. Manche Behörden in den Landkreisen schließen derartige Ortschaften von vornherein als Flüchtlingswohnort aus, wenn etwa eine Familie untergebracht werden muss, der Weg zur Schule aber praktisch unmöglich ist.

Vielfach ist mit dem Wegzug der jüngeren Bevölkerung auch das ehrenamtliche Potenzial auf dem Lande verloren gegangen. Während in den Kreisstädten meist neben kirchlichen Initiativen verschiedene Vereine die sozialen Integrationsaufgaben leisten, ist in den entleerten Gemeinden der Flüchtlingssozialarbeiter oftmals der einzige Ansprechpartner. Bei einem Betreuungsschlüssel von 1 zu 150 und einer großen Streuung der Flüchtlinge, ist der Sozialarbeiter leider häufiger im Auto anzutreffen als beim Klienten.

Während in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands also rein rechnerisch tatsächlich Unterbringungskapazitäten vorhanden sind, ist der Mangel an sozialer Infrastruktur ein limitierender Faktor, wenn es um die langfristige Integration von Flüchtlingen geht. Ohnehin ist für die meisten Flüchtlinge das ländliche Ostdeutschland nur eine Durchgangsstation. Experten zufolge ziehen die meisten von ihnen nach Abschluss des Asylverfahrens weiter – entweder zu Familienangehörigen in andere Regionen, oder aber in die großen städtischen Zentren, wo sie einen besseren Zugang zu Bildung, Arbeit und zu ethnischen und sozialen Netzwerken haben.

Oft wurde in den vergangenen Wochen von Fremdenfeindlichkeit und rechtsradikalen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte berichtet – häufig in ostdeutschen Gemeinden. Um diese Reaktionen zu verstehen, muss man auch hier die Langzeiteffekte der Schrumpfungsprozesse berücksichtigen, die auch zu einem Rückgang der politischen und kulturellen Bildung in der Fläche geführt haben. Rechtsradikale Organisationen haben diese Lücken zu füllen gewusst und erfreuten sich gerade bei Jugendlichen einem starken Zulauf. Häufig paaren sich fremdenfeindliche Einstellungen mit einer Ablehnung demokratischer Institutionen und der Hinwendung zu rechtslastigen Parteien und Initiativen wie etwa der AfD oder Pegida.

Die Mitte-Studien des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig zeigen einen starken Zuspruch der ostdeutschen Befragten zu chauvinistischen, ausländerfeindlichen und sozialdarwinistischen Einstellungen. Ein Grund für die rechtsextremen Einstellungen ist demnach die Erfahrung relativer Deprivation, das heißt ein Gefühl der eigenen sozialen Benachteiligung, das durch die Abwertung anderer Gruppen kompensiert wird. Flüchtlinge stellen hier eine geeignete Zielscheibe dar – vor allem wenn sie aus Kulturkreisen stammen, die als rückständig wahrgenommen werden und ihnen unterstellt wird, den Sozialstaat ausnutzen zu wollen. Der Zuspruch zu derartigen Aussagen ist besonders stark bei weniger gebildeten oder sozial schlechter gestellten Menschen anzutreffen, aber die Autoren der Studie betonen, dass rechtsradikales Gedankengut auch in weiten Teilen der Bevölkerung verankert ist und deshalb offen zur Schau gestellt wird.

Angst vor dem Unbekannten und Nazipropaganda

In den ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands kann man diese Zusammenhänge besonders gut während der Bürgerversammlungen beobachten, die im Vorfeld der Unterbringung von Asylsuchenden veranstaltet werden. Teilweise werden übersteigerte Ängste vor den Zuwanderern geäußert. Ein gängiges Stereotyp ist etwa das des alleinstehenden schwarzen Mannes, der „unsere Frauen und Kinder vergewaltigt“. Manche Äußerungen werden sicherlich aus Angst vor dem Unbekannten getroffen, denn vielfach haben die ländlichen Bewohner bislang kaum interkulturelle Erfahrungen gemacht. Viele Bürgerveranstaltungen werden auch von NPD-Angehörigen unterwandert, die aktiv und aggressiv die ausländerfeindliche Stimmung anheizen. Ebenso lässt sich auf Bürgerversammlungen das Gefühl der relativen Deprivation beobachten, etwa wenn den Verantwortlichen vorgeworfen wird, die Flüchtlinge gegenüber den eigenen bedürftigen Bürgern bevorzugt zu behandeln: „Asylbewerber kriegen alles, Empfänger von Arbeitslosengeld II kriegen nichts“, heißt es dann.

Eine häufige Kritik der politischen Vertreter hinsichtlich des Flüchtlingsmanagements von Bund und Ländern ist die schlechte Abstimmung zwischen den verschiedenen Ebenen, die Unzuverlässigkeit der Prognosen sowie die Kurzfristigkeit der Information, wenn es um die konkrete Aufnahme von Flüchtlingen in einer Gemeinde geht. Sowohl die Sanierung von öffentlichen Gebäuden als auch die Akquise von Wohnungen für die dezentrale Unterbringung braucht Zeit und Strukturen und verlangt zudem erhebliche finanzielle Investitionen. Mit den steigenden Flüchtlingszahlen, die über die geschilderten Quotenverfahren letztlich an die Kommunen durchgereicht werden, werden die Akteure vor Ort gezwungen, reaktiv zu agieren.

Die Folge: Es werden zusätzliche Investitionen notwendig, die bei einem planvolleren Vorgehen hätten vermieden werden können. Gleichzeitig steigt der Rechtfertigungsdruck gegenüber der ansässigen Bevölkerung. Denn wenn von der Ankündigung einer Flüchtlingszuweisung bis zu deren Ankunft nur wenige Tage vergehen, ist eine angemessene Einstimmung der Bevölkerung unmöglich. Der Effekt ist eine weitere Delegitimierung demokratischer Institutionen und ihrer Vertreter, die gerade in kleineren ländlichen Gemeinden eine wichtige vermittelnde Funktion übernehmen.

Mehr Flexibilität in den Verfahren und im Denken

Die visuelle Kommunikation der Medien verstärkt die bestehenden Ängste vor einer „Überfremdung“ oder übermäßigen Belastung. Problematisch sind außerdem bestimmte öffentliche Äußerungen von Politikern, durch die Abwehrreaktionen verstärkt werden können. Die Reaktionen der Bundespolitik auf die Ausschreitungen von Heidenau sind ein gutes Beispiel. „Bei uns würde man sagen: Das ist Pack“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel – und forderte damit provokante Reaktionen der so titulierten Gruppe geradezu heraus, die dann auch nicht lange auf sich warten ließen („Wir sind das Pack!“). Den Versuch, die Krawallmacher von Heidenau durch Hinweise auf ihr „undeutsches“ Verhalten zur Räson zu bringen, bestärkt im Endeffekt deren nationalistische Diskursschiene und legitimiert Argumentationsmuster, bei denen Gruppenunterschiede zwischen „uns“ und den „anderen“ herausgestellt werden.

Verstärkt werden solche Othering-Prozesse durch öffentliche Überlegungen zu legitimen und illegitimen Asylbewerbern, die Migranten aus dem Westbalkan pauschal diskreditieren. Auch hier werden ohne Not negative Stereotype verstärkt oder überhaupt erst aufgebaut und die Integrationsbedingungen der Betroffenen vor Ort verschlechtert. So gibt es bereits erste Fälle von Kindergärten, die kosovarische Kinder mit dem Hinweis ablehnen, angesichts der beschränkten Bleibeperspektive würde sich die Integrationsarbeit nicht lohnen.

Die bisherige Praxis der Verteilung von Flüchtlingen nach dem Prinzip einer gerechten Lastenverteilung hat viele Kommunen, vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands, vor große Herausforderungen gestellt. Sie haben diese angenommen und in den vergangenen Monaten und Jahren aus den Erfahrungen gelernt. Die erzielten Erfolge – besonders der dezentralen Unterbringungspraxis – werden durch die stark steigenden Flüchtlingszahlen zunehmend infrage gestellt. Es ist zu befürchten, dass die Kommunen in Zukunft nicht mehr ausreichend Zeit haben werden, um in einer sozialverträglichen Art und Weise dezentrale Versorgungs- und Integrationsstrukturen aufzubauen. Eine Lösung dieser zugespitzten Situation sehen manche Akteure derzeit in einer Beschränkung des Asylrechts für Flüchtlinge aus den Westbalkanstaaten. Vor dieser Art des strukturellen Rassismus sei gewarnt, zumal sie ihr Ziel verfehlen wird.

Ob mit oder ohne Balkan-Flüchtlinge werden wir uns als Gesellschaft auf langfristig hohe Zuwanderungszahlen einstellen müssen – egal unter welchem Label diese stattfinden werden. Wir müssen daher mehr Flexibilität in den Verfahrens- und Denkweisen zeigen als bisher. Dies könnte eine Abkehr von dem bisherigen Quotensystem bedeuten, eine stärkere Berücksichtigung existierender privater Netzwerke bei der Aufnahme von Flüchtlingen oder auch mehr Flexibilität hinsichtlich der Vergabe von Aufenthaltstiteln an Flüchtlinge zu Bildungs- und Ausbildungszwecken und zur Arbeitsaufnahme. Denn „Migration“ und ihre unterschiedlichen Formate sind allesamt sozial konstruiert. Ob der neu Angekommene als Gast oder Last betrachtet wird, als politisch Verfolgter, nachgefragter Facharbeiter oder Armutsmigrant, all das liegt im Ermessen des Betrachters.

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