Flucht und Suche



1 Am 27. September 2009 stürzte die SPD bei der Bundestagswahl unter ihrem Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeier auf den historischen Tiefstand von 23 Prozent. Keine zwei Monate später, am 13. November, wurde Sigmar Gabriel nach einer furiosen Bewerbungsrede zum neuen SPD-Parteivorsitzenden und Nachfolger von Franz Müntefering gewählt. Im Mittelpunkt seiner Rede stand die pointierte Beschreibung der eigentlichen Aufgabe der SPD. Es gelte, nicht dem „Gespenst der politischen Mitte“ hinterherzulaufen, sondern mit linker Politik die Mehrheit der Gesellschaft zu erobern. Denn die politische Mitte, so Gabriel treffend, sei „kein fester Ort, sondern die Deutungshoheit in der Gesellschaft“. Gewonnen werde sie von dem, der in den Augen der Mehrheit der Menschen die richtigen Fragen stelle und auf diese richtig reagiere – nämlich „von links, mit emanzipatorischen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit“.

Soweit Gabriel Ende 2009. Knapp zwei Jahre später ist von diesem Anspruch nicht mehr viel übrig. Die prominenteste  „Ausbeute“ der vergangenen zwei Jahre ist keine inhaltliche Neupositionierung, sondern eine hitzige Personaldebatte über eine Kanzlerkandidatur Peer Steinbrücks, die – bei allem Verständnis für die Misere der Parteiführung – wenig mit einer Neubestimmung von links zu tun hat.

Betrachtet man rückblickend die ersten zwei Jahre der Ära Gabriel, bleibt vor allem ein Ereignis – redet etwa noch jemand vom „SPD-Präsidentschaftskandidaten” Joachim Gauck? – als dezidiert links-emanzipatorisches in Erinnerung: die resolute Kritik des Parteivorsitzenden in der Zeit an den sozialdarwinistischen Positionen Thilo Sarrazins. „Der Hobby-Eugeniker Sarrazin und seine medialen Helfershelfer sind dabei, Theorien der staatlichen Genomauswahl wieder salon- und hoffähig zu machen“, hatte Gabriel im Herbst 2010 scharf formuliert und war zu dem Schluss gekommen: „Wer uns empfiehlt, diese Botschaft in unseren Reihen zu dulden, der fordert uns zur Aufgabe all dessen auf, was Sozialdemokratie ausmacht: unser Bild vom freien und zur Emanzipation fähigen Menschen. Und wer uns rät, doch Rücksicht auf die Wählerschaft zu nehmen, die Sarrazins Thesen (oder dem, was davon veröffentlicht wurde) zustimmt, der empfiehlt uns taktisches Verhalten dort, wo es um Grundsätze geht – und darüber jenen Opportunismus, der den Parteien sonst so häufig vorgeworfen wird.“

Was folgte, ist bekannt: „taktisches Verhalten“ und „Rücksicht auf die Wählerschaft“. Mit der stillschweigenden Beerdigung des von Anfang an unüberlegten Sarrazin-Ausschlusses – denn allein auf die harte Auseinandersetzung in der Sache kam es an – hat die SPD-Führung einen zweifachen Kotau begangen: vor „Volkes Meinung“ und vor Thilo Sarrazin selbst. Das ist in doppelter Hinsicht fatal. Zum einen gab Gabriel all jenen recht, die in Sarrazin ohnehin das Opfer einer Kampagne bösartiger „Gutmenschen“ sehen. Zum anderen opferte er in der Integrationsdebatte seinen eigenen Anspruch auf eine linke, aufklärerische Politik.

Das gilt in anderer Weise auch für die Ökologie-Debatte. Hier macht die SPD den Eindruck, als wollte sie direkt wieder an die Kanalarbeitermentalität der siebziger und achtziger Jahre anknüpfen. Zwar weist die Parteiführung völlig zu recht darauf hin, dass der Atomausstieg nicht einseitig zulasten der sozial Schwachen gehen darf. Reaktionär wird es jedoch immer dann, wenn lediglich mehr Wachstum propagiert wird – mehr Kohlekraftwerke, mehr Autos –, anstatt mit den Grünen an neuen Energie- und Mobilitätskonzepten zu arbeiten. „Neuer Fortschritt“, wie es im aktuellen Programmentwurf heißt, sieht anders aus. Faktisch werden die Grünen damit direkt in die weit geöffneten Arme einer frisch angegrünten Union getrieben.

2 Gegen die neue grün-schwarze Deutungshoheit müsste die SPD ein dezidiert links-emanzipatorisches Projekt platzieren. Und hier liegt der eigentliche Kardinalfehler der letzten beiden Jahre: Seit der Ära Schröder leidet die SPD unter dem Verlust ihres Markenkerns der sozialen Gerechtigkeit. Doch anstatt diesen wieder selbstbewusst für sich zu reklamieren, auch gegen die Konkurrenz von links, unternimmt sie permanente Such- und Fluchtbewegungen.

Dabei ist die soziale Frage, aufgrund derer die SPD vor bald 150 Jahren gegründet wurde, beileibe nicht gelöst, im Gegenteil: Sie stellt sich heute in dramatischer Weise neu. Wie kann Solidarität in einer immer stärker auseinanderstrebenden Gesellschaft hergestellt werden – auf nationaler, europäischer und globaler Ebene? Sprich: Wie kann gegen die Hegemonie des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus das Primat der Politik zurückerobert werden? Bis 2013 – das Jahr der nächsten Bundestagswahl wie des 150. Parteigeburtstags – in dieser Frage ein neues glaubhaftes Angebot zu entwickeln, ist die eigentliche Aufgabe der SPD.

3 Wie wusste Sigmar Gabriel noch vor knapp zwei Jahren: „Willy Brandt und die SPD haben nicht ihre Antworten angepasst, sondern sie haben um die Deutungshoheit in dieser Gesellschaft gekämpft. Die Mitte war links, weil wir sie verändert haben. Die SPD hat sie erobert, und das müssen wir wieder machen, liebe Genossinnen und Genossen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. «

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