Es geht ums Ganze

EDITORIAL

„A week is a long time in politics“, lautet ein bekannter Merksatz des britischen Premierministers Harold Wilson aus den sechziger Jahren. Die dramatisch beschleunigten Entwicklungen unserer Zeit machen den Ausspruch aktueller denn je. Wenn Sie diese Zeilen lesen, wissen Sie bereits, wie die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ausgegangen ist. Sie wissen dann auch schon, welche Schlüsse daraus in der öffentlichen Debatte mit Blick auf den weiteren Bundestagswahlkampf gezogen werden. Der Verfasser dieser Zeilen dagegen kennt das Ergebnis der Wahl in NRW noch nicht. Vor wenigen Stunden erst habe ich erfahren, dass der neue Präsident Frankreichs – glücklicherweise – der Progressive Emmanuel Macron sein wird. Und auch nur ein paar Stunden länger ist mir bekannt, dass sich die SPD bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein einen heftigen Schlag ins Kontor eingehandelt hat.

Noch weiter zurück auf der rasenden Timeline der Ereignisse in Deutschland, Europa und der Welt befanden sich die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe. Als sie ihre Texte konzipierten und aufschrieben, wussten sie zwar schon, wie die Parlamentswahl in den Niederlanden oder das Erdogan-Referendum in der Türkei ausgegangen waren. Sie konnten aber noch nicht wissen, wie es in Frankreich und Schleswig-Holstein weitergehen werde. Trotzdem sollten sie sich Gedanken machen über weitere Entwicklungen im deutschen Parteiensystem, die nicht zuletzt von genau diesen Resultaten beeinflusst sein werden. Kippt ein einziger Dominostein in eine andere Richtung, verläuft womöglich alles Weitere völlig anders. Kurz, jegliches Analysieren, Deuten und Vorhersagen findet gegenwärtig unter volatilsten Bedingungen statt. Einen höchst aufschlussreichen Schwerpunkt über die strategische Grundaufstellung der deutschen Parteien wenige Monate vor der elementar wichtigen Bundestagswahl am 24. September ergeben die hier versammelten Beiträge dennoch allemal.

Gerade der Zweikampf zwischen Macron und Le Pen hat im Übrigen noch einmal in beängstigender Klarheit gezeigt, wie verdammt viel gerade auf dem Spiel steht in dieser „Welt aus den Angeln“ (Frank-Walter Steinmeier). Wir seien „nur noch zwei oder drei schlechte Wahlen entfernt vom Ende der Nato, der EU und vielleicht der freiheitlichen Weltordnung insgesamt“, schrieb vor einem guten Jahr die Publizistin Anne Applebaum. Vor allem Trump und der Brexit haben die Lage dann tatsächlich auf die Spitze getrieben. Darauf folgten zwar zuletzt einige vorsichtige Hoffnungszeichen – in Österreich, in den Niederlanden und jetzt in Frankreich. Doch das ist noch längst kein Grund zur Beruhigung. Beim Wettbewerb der Parteien im deutschen Wahljahr 2017 geht es daher nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung um die Routine einer parlamentarischen Demokratie. Mindestens ebenso sehr kommt es diesmal darauf an, dass alle Demokraten gemeinsam die freiheitliche Gesellschaft als solche mit voller Kraft verteidigen. Auch dazu will diese Ausgabe mit aufklärerischen Mitteln ermutigen.

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