Erfolgsmodell im Wandel - die neue "Malu-SPD"

Malu Dreyer hat der rheinland-pfälzischen SPD ein neues, grüneres Profil verschafft. Zugewinne bei Frauen und Akademikern wogen Verluste bei Arbeitern und Arbeitslosen auf. So bleibt die Partei im Land weiterhin die politisch prägende Kraft

Der Wahlkampf in Rheinland-Pfalz spielte sich auf zwei Ebenen ab. Thematisch wurde er, wie auch in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, vollkommen von der bundespolitischen, ja europapolitischen Flüchtlingsfrage beherrscht. Landespolitische Themen spielten hingegen kaum eine Rolle. Dennoch war die Landtagswahl keine Entscheidung über richtige oder falsche, gute oder schlechte Flüchtlingspolitik. Mit der Amtsinhaberin Malu Dreyer siegte diejenige Kandidatin, die den Bedürfnissen nach Glaubwürdigkeit und Sicherheit in einer „Ministerpräsidentendemokratie“ auf Landesebene am besten entsprach. Und es siegte auch diejenige Partei, die sich in den langen Jahren unter Kurt Beck als verlässliche Fürsprecherin „nah bei de Leut“ so etwas wie kämpferisches Selbstbewusstsein erworben hatte. Anders gewendet: Malu Dreyer konnte in der kritischen Phase einer neuen Spaltung in der Wählerschaft die SPD und weite Teile ihrer durchaus heterogenen Anhängergruppen hinter sich versammeln und zu einer Malu-SPD vereinen.

Die neue Spaltung der Wählerschaft hing mit dem sprunghaften Anwachsen der Flüchtlingszahlen ab dem Spätsommer 2015 zusammen. Diese waren zunächst eine große Herausforderung für die Verwaltungen des Bundes und der Länder. Rheinland-Pfalz, das in diesen Monaten mit dem SPD-Landesvorsitzenden und Landesinnenminister Roger Lewentz den Vorsitzenden der Innenministerkonferenz stellte, bewältigte diese Herausforderung im Übrigen ohne Wehklagen.

Als politisches Konfliktthema wirkte die Flüchtlingsfrage in doppelter Hinsicht in die Wählersegmente mit eher autoritärer und konservativer Weltsicht hinein. Dieser autoritär-konservative Wählerbereich war seit Jahrzehnten zwar vorrangig im Umfeld der CDU angesiedelt, aber er fand sich mit Ausnahme der Grünen auch bei allen anderen Parteien. Die Flüchtlings-frage schürte Ängste und Sorgen vor „Fremden“ und mobilisierte allerorten latente Fremdenfeindlichkeit, die in jüngster Zeit vor allem die Züge von Islamfeindlichkeit angenommen hatte. Damit bediente sie die „normale Pathologie“ (Erwin Scheuch/Hans Klingemann) moderner Gesellschaften mit ihrem Hang zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Zugleich aber fügte sich die Flüchtlingsfrage als eine neue Facette in eine lange Reihe von Konflikten zwischen Moderne und Tradition ein, mit denen im vergangenen Jahrzehnt vor allem die Unionsparteien durch den Merkel-Flügel konfrontiert wurden. In deren Verlauf gerieten die Anhänger der kulturellen und gesellschaftlichen Tradition immer stärker in die Defensive und fühlten sich in der Union, aber nicht nur dort, nicht mehr repräsentiert.

Mit dem Satz „Wir schaffen das“, mit dem die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende zunächst auf den Flüchtlingszustrom reagiert hatte und der zum Symbol für eine freundliche Willkommenskultur wurde, und mit ihrer Entschlossenheit, die Flüchtlingsfrage nur im europäischen Rahmen und unter Verzicht auf nationale Abschottungsmaßnahmen zu lösen, setzte Angela Merkel ihre Partei unter massiven Druck, der die Union förmlich spaltete, nicht zuletzt in Rheinland-Pfalz.

Die CDU verlor in alle Himmelsrichtungen

Dort hatte die CDU Ende September 2015 in den Umfragen noch bei 41 Prozent gelegen, weit vor der SPD mit 31 Prozent und der AfD, die damals auf magere 4 Prozent kam. Seit der Jahreswende zeichnete sich ein Zerfall der Unionsanhängerschaft ab. Wähler und Landesparteispitzen konnten die unionsinternen Konflikte in der Flüchtlingsfrage nicht mehr überspielen. Als der Wahlkampf in die heiße Phase ging, traten sie immer deutlicher zutage. Für die CDU-Kampagne war das eine Katastrophe. Vor allem konnten die zahlreichen Auftritte der Bundeskanzlerin die Anhängerschaft der Union nicht aus ihrem Loyalitätsdilemma befreien. Stattdessen trugen sie – diesmal ganz ungeplant – zur asymmetrischen Demobilisierung unter den Unionswählern bei. Am Wahlabend offenbarte sich für die Union eine niederschmetternde Bilanz. Die CDU errang mit 31,8 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt bei Landtagswahlen. Die SPD wurde mit 36,2 Prozent einmal mehr stärkste Partei, und die AfD wuchs auf 12,6 Prozent an. Die Wählerwanderungsbilanzen zeigen, dass die CDU in fast alle politischen Himmelsrichtungen verloren hat; am stärksten schlugen die Abflüsse an die AfD zu Buche. Die Anhängerschaft der CDU in Rheinland-Pfalz war unter dem Eindruck der Flüchtlingsfrage nicht mehr zusammenzuhalten.

Aber der Zerfall der Unionsmehrheit erklärt noch nicht den Last-Minute-Triumph der SPD unter Malu Dreyer. Er geht auf das Geschick und die Beschleunigung zurück, mit denen sich Dreyer ein eigenständiges Profil als sozialdemokratische Ministerpräsidentin erwerben konnte. Erst dieses Profil half, den Amtsbonus einer Ministerpräsidentin auszuspielen, die auf der Landesebene ja nicht nur Regierungschefin, sondern auch Staatsoberhaupt ist. Gerade in dem ländlich-kleinstädtischen Rheinland-Pfalz haben große Ministerpräsidenten wie Bernhard Vogel oder Kurt Beck immer auch mit ihrem Amtstil als professoraler „Landespräsident“ oder als leutseliger „Landesbürgermeister“ Bürger weit über ihre engeren Parteianhängerschaften hinaus ansprechen können.

Die klassische Kurt-Beck-SPD ist Geschichte

Dreyer hat diese Profilierung seit ihrem Amtsantritt 2013 hinbekommen und dazu auch den Wahlkampf gegen ihre Herausforderin Julia Klöckner genutzt. Ihre Laufbahn als Sozialpolitikerin hatte ihr einen sozialdemokratischen Stallgeruch verliehen, den sie mit der lockeren Selbstbeschreibung als „höfliche Feministin“, dem unverkrampften Umgang mit ihrer MS-Erkrankung und ihrem bescheidenen Lebensstil (sie wohnt mit ihrem Mann in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt in Trier) eine sehr individuelle und liebenswürdige Note verlieh. Diese Profilsignale ließen auf der landespolitischen Ebene Zug um Zug das Bild einer neuen Malu-SPD entstehen, die sich von der Kurt-Beck-SPD mit ihren klassischen Arbeitnehmertraditionen abhob. Diese Verschiebungen in der Wählerschaft zeigten sich in den Zugewinnen der SPD bei Frauen, Hochgebildeten, Angestellten und Beamten einerseits und andererseits in den Verlusten bei Arbeitern und Arbeitslosen sowie in den traditionellen, strukturschwachen regionalen Hochburgen in der Westpfalz.

In der Flüchtlingsfrage stützte Dreyer grundsätzlich die Bundeskanzlerin. Sie betonte jedoch vor allem landespolitische Aspekte wie die Notwendigkeit, die Flüchtlinge gut aufzunehmen, zu versorgen und sogleich mit der Integration zu beginnen. Diese partielle Abstinenz von der Bundespolitik hatte für Dreyer und die rheinland-pfälzische SPD zwei strategische Vorteile. Zum einen wahrte sie so zumindest teilweise Distanz zu der trostlosen Ausstrahlung der vor sich hin dümpelnden Bundespartei. Zum anderen konnte sich Dreyer gegen die Stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner abgrenzen, die angesichts der Spaltkraft der Flüchtlingsfrage für die Unionsanhängerschaft in eine fatale Grätsche zwischen Bundes- und Landespolitik geriet.

Die Wähler nahmen Klöckner als politische Kreatur Merkels wahr, der sie jedoch in der Not des Wahlkampfes gemeinsam mit dem baden-württembergischen CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf immer wieder zaghaft zu widersprechen schien. So vertrat Klöckner mit ihrem ominösen Plan A2 eine unklare Position und relativierte die grundsätzliche Unterstützung für Merkel. Auf den Schlussplakaten inszenierte sie sich als strenge Zuchtmeisterin in allen Integrationsbelangen.

Kurioserweise erhielt Dreyer den letzten Schliff ihrer Profilierung, als sie sich weigerte, gemeinsam mit dem Spitzenkandidaten der AfD in der „Elefantenrunde“ im SWR aufzutreten. Trotz des Aufheulens des SWR und zahlreicher Medienexperten verwies sie trotzig auf die Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft im Umfeld der AfD: Diesen Burschen wolle sie zu keinem Forum verhelfen. Sie sprach damit instinktiv die sozial-demokratische Tradition des unbeirrten Widerstands gegen Nationalsozialismus und Faschismus an. Die Malu-SPD liebte sie dafür.

Dieser Wahlsieg wäre wohl ohne die bislang kaum erwähnte, sehr erfolgreiche Mobilisierungskampagne der Landespartei in zentralen Wahlkreisen nicht möglich gewesen. Mit einer langfristig geplanten und sozialwissenschaftlich abgestützten Kampagne konnte die SPD 54 000 Stimmen aus dem Nichtwählerlager gewinnen. Neben dem Zustrom von 90 000 ehemaligen Wählern der Grünen zur SPD, stellte die Gruppe der Nichtwähler den zweiten tragenden Pfeiler für den Wahlsieg dar und unterstrich eindrucksvoll die ungebrochene Kampagnenfähigkeit der SPD in Rheinland-Pfalz.

Alte Dominanz unter neuen Bedingungen

Unter Malu Dreyer ist die rheinland-pfälzische SPD im Vergleich zur Ära Beck also „grüner“ geworden. Entsprechend haben die Grünen mit nur noch 5,3 Prozent ein schlechtes Ergebnis erzielt und sind wieder auf ihre traditionell schmale Basis zurückgeworfen worden. Aufgrund der Ampelkoalition mit der FDP haben sowohl die Grünen als auch die SPD gute Chancen, auch nach dieser Ausnahmewahl im Schatten der Flüchtlingskrise weiter zu regieren. Unter dem Strich konnte sich die SPD in Rheinland-Pfalz als regionales Erfolgsmodell behaupten.

Sowohl mit Blick auf das angesichts dramatischer Rahmenbedingungen und Verschiebungen im Parteiensystem höchst respektable Wahlergebnis, als auch mit Blick auf die Breite und Vielfalt der sozialen und kulturellen Verankerung der rheinland-pfälzischen SPD, hat sich bei der Landtagswahl eine traditionsbewusste und lebendige linke Volkspartei sehr ordentlich geschlagen und die Dominanz der vergangenen 25 Jahre unter neuen Verhältnissen fortgeschrieben. Das kann man nicht von allen Sozialdemokraten im Südwesten und in anderen Teilen der Republik sagen.

zurück zur Ausgabe