Die ziellose Bildungsrepublik

Aufstieg? Chancen? Gleichheit? Qualität? An der Bildungsfrage entscheidet sich das Schicksal unserer Gesellschaft. Doch die Bildungsziele, die sich ein modernes Gemeinwesen setzen muss, wurden in der ehrgeizlosen Ära Merkel nicht einmal formuliert. Ein Neuanfang ist dringend fällig

Die Frage ruft beinahe Empörung hervor. Will man von internationalen Experten wissen, was Deutschland tun müsste, um seinen heruntergekommenen Bildungsstandort aufzumöbeln, werden die Fachleute richtig sauer. „Ihr wisst es doch ganz genau. Seit zehn Jahren steht es in jedem Pisa-Bericht. Ihr Deutschen müsst es nur endlich machen!“, lautet sinngemäß die ehrliche Antwort. Der deutsche Patient: Die Diagnose ist klar – aber die Therapie kommt nicht durch.

Andreas Schleicher, selbst Deutscher und zugleich Erfinder von Pisa, sagt es so: „Wir Deutschen versuchen, die Schüler des 21. Jahrhunderts zu unterrichten – mit Lehrern aus dem 20. Jahrhundert und einem Schulsystem, das im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert stammt.“ Eine hellsichtige Diagnose – und zugleich eine niederschmetternde Analyse. Dabei verriet Pisa den Deutschen bereits im Jahr 2001 – wohlgemerkt: im ersten Band von mittlerweile vier –, dass sie eine Schule haben, die erstens wenig leistungsfähig ist und zweitens sozial extrem ungerecht: Die Kinder von Hauptschülern haben – bei gleichem IQ – eine sechsmal geringere Chance, aufs Gymnasium zu kommen, als die Kinder von Abiturienten.

Deutlich ließ sich aus den vielen Daten von Pisa herauslesen, wie es dazu kommt: Deutschland teilt seine Schülerschaft zu früh in gute und schlechte Schüler ein. So entstehen – sozio-pädagogisch ausgedrückt – differenzielle Lernmilieus, die man auch Schulghettos nennen kann. In den einen, den Gymnasien, werden die Leistungen der Schüler immer besser – in den anderen, den Haupt- und Sonderschulen, sinken Motivation und Leistung immer weiter ab. Der Pisaforscher Jürgen Baumert kam zu dem Schluss, dass solche „Marienthalschulen“, in denen sich die meisten Schüler aufgegeben haben, mit dem Grundgesetz schlicht nicht vereinbar seien.

Das alles ist seit 2001 bekannt und wurde seither durch Teilstudien immer präziser belegt. Aber was machte die Politik mit all den Informationen? Sie leugnete sie einfach und erklärte die Schulformen zum Tabu. Doch dieser Tabubeschluss führte nicht etwa dazu, dass sich die Zahl der Schulformen reduzierte; stattdessen explodierte sie geradezu. Im Jahr 2001 gab es im Wesentlichen vier Formen weiterführender Schulen in Deutschland: Haupt- und Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. 2013 gibt es 14 Schularten. Wenn man es genau betrachtet, sind es sogar noch mehr, denn die Bezeichnungen Ober-, Mittel- oder Gemeinschaftsschule stehen in jedem Bundesland für etwas anderes. Entstanden ist, kurzum, ein babylonisches Schulgewirr.

Irrungen und Wirrungen an der Zahl

Das sollte man sich vor Augen halten, wenn man ganz allgemein über Bildungsreformen in Deutschland spricht: Je größer das Steuerungswissen, umso verwirrender die Schlussfolgerungen der Politik. Nicht alles, was die Politik beschließt, wird ja so Wirklichkeit, wie beabsichtigt. Oft passiert genau das Gegenteil. Betrachtet man die Bildungsreformen der vergangenen Jahre im Schnelldurchlauf, so finden sich Irrungen und Wirrungen an der Zahl. Beispiele gefällig? Kein Problem.

Erstens: Obwohl es einen eindeutigen Bund-Länder-Beschluss gibt, dazu viel Geld und eine große Nachfrage aus der Bevölkerung, erweist sich der Krippenausbau praktisch als undurchführbar. Die Gegenspieler Bund und Länder beharken sich gegenseitig, die Kommunen kommen als dritter (Veto-)Spieler hinzu.

Zweitens: Obwohl Pädagogen wie Pisaforscher seit Jahren das Nichtversetzen als pädagogisch sinnlos und teuer analysieren, ist die Republik auf diesem Gebiet kollektiv sitzengeblieben. Eine stabile Mehrheit ist für das Sitzenbleiben. Besonders beliebt ist es nach Umfragen bei Schülern. Hier stellt sich die Bevölkerung gegen Wissenschaft und Politik, die das Sitzenbleiben gerne abbauen wollen.

Drittens: Obwohl Fachwelt und Hochschulen eine maßvolle Beteiligung der Studierenden an den Studienkosten als unabdingbar sehen, haben die Bundesländer sie wieder abgeschafft. Die Hochschulen haben von der Campusmaut profitiert und die Wissenschaft hat herausgefunden, dass sie kaum einem Studenten geschadet haben. Dennoch haben die Rot-Grün regierten Bundesländer den Privilegierten unter den Bildungsteilnehmern, den Studenten, den 83-Euro-Monatsobolus wieder erlassen. Die Kosten für den Staat: etwa 750 Millionen Euro jährlich, die nun anderswo für den Kampf gegen die Bildungsarmut fehlen.

Diese Reihe von Beispielen ließe sich beinahe beliebig fortsetzen: die chaotische G8/G9-Politik, der Länderbetrug beim Hochschulpakt oder das Hamburger Zickzack zur sechsjährigen Grundschule sind nur einige Schlagworte.

Jeder dieser Fälle liegt ein bisschen anders. Auch die Konstellationen der einzelnen Akteure unterscheiden sich jeweils. Meistens stehen Bund und Länder einander im Weg, mal blockieren die Bürger die Politik, mal tut sich eine Parteienkonstellation mit Interessengruppen zusammen. Dabei ist all den ziellosen Bildungsreformen eines gemeinsam: Sie zerstören das Vertrauen. Doch Vertrauen in die Existenz von Chancen ist das Fundament allen Lernens. Nicht von ungefähr genießen Bildungsteilnehmer prinzipiell Vertrauensschutz. Das bedeutet, Schüler oder Studenten müssen darauf vertrauen können, dass ihre Bildungseinrichtung nicht einfach aufgelöst wird, dass sie bis zum Abschluss lernen können.

Der Verlust des Vertrauens in bildungspolitische Entscheidungen ist derzeit jedoch maximal. Die Hälfte der Eltern denkt darüber nach, ihre Kinder dem staatlichen Schulwesen zu entziehen und sie stattdessen auf eine private Schule zu schicken. Zwei Drittel der Eltern finden das Schulwesen grundsätzlich veraltet. Die Allzuständigkeit der Bundesländer hat bei neun von zehn Deutschen keinen Rückhalt mehr – und das, obwohl die Kulturhoheit die verfassungsmäßige Grundlage des deutschen Schulwesens ist. Mehr Widerspruch zwischen dem herrschenden Bildungssystem und der herrschenden Meinung ist kaum denkbar.

In den Jahren 2011 und 2012 entwickelte sich zudem eine verrückte Situation. Plötzlich standen wegen Plagiatsverdacht die Doktortitel der beiden wichtigsten amtierenden Bildungspolitiker der Republik in Frage: zum einen der des christdemokratischen Präsidenten der Kultusministerkonferenz, Bernd Althusmann, zum anderen der von Bundesbildungsministerin Annette Schavan, ebenfalls CDU. Ein Ausnahmezustand für die Bildungsrepublik. Die Bedeutung von Abschlüssen liegt in der deutschen Bildungstradition darin, eine Berechtigung auszusprechen. Deutsche Schüler und Studenten aber mussten es lange Zeit ertragen, dass ihnen ausgerechnet zwei Minister mit wackligen Berechtigungen Reden auf Fleiß und Gründlichkeit hielten. Dennoch weigerte sich sowohl Althusmann als auch Schavan über viele Monate, das eigene Amt niederzulegen – der protokollarische Super-GAU der Bildungsrepublik.

Unfähigkeit und Selbstblockade

Jedes Politikfeld ist umstritten, immer. Das kann in einer Demokratie gar nicht anders sein. Warum aber ist die Unfähigkeit zu gemeinsamem Handeln in der deutschen Bildungspolitik so unendlich groß? Es liegt an dem hoch ideologischen Charakter von Bildung. Bildungsreformen sind nie nur auf die Teilsysteme Schule, Hochschule oder Kindergarten beschränkt. Umbauten hier touchieren stets das Selbstverständnis der Deutschen als politische Bürger schlechthin. Bildungsfragen sind gewissermaßen Fragen der politischen, mentalen und institutionellen Verfassung.

Die Einführung von Kindergärten oder Schulen beispielsweise, die Kinder den ganzen Tag lang bilden und betreuen, stellen das Bild der heiligen Familie und Mutter in Frage, das sich in Deutschland über Jahrhunderte gebildet hat. Wie also sollte eine solche Ganztagseinrichtung heute quasi über Nacht als Bildungseinrichtung und Familienersatz akzeptiert werden? Ganz nebenbei stellen Ganztagsschulen die gewachsenen ministeriellen Zuständigkeiten und das System der Jugendhilfe auf den Kopf. Das komplette gesellschaftliche Jugendvereinswesen und die Jugendarbeit werden durch sie gefährdet.

Nicht von ungefähr hat das Ganztagsschulprogramm, durch Wahlen offensiv legitimiert und von Gerhard Schröder sowie Edelgard Bulmahn mit vier Milliarden Euro ausstaffiert, zu einer Art föderaler Abstoßungsreaktion geführt. Die Länder, angeführt vom damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, verabredeten sich zu einer Föderalismusreform, die den Bund in der Bildungspolitik zu einem machtlosen Zuschauer degradierte. „Nie wieder“ sollte es in der Bildungspolitik so etwas wie ein nationales Ganztagsschulprogramm geben. Der Umbau der grundgesetzlichen Zuständigkeiten mit seinem widersinnigen Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern bei Schulfragen hat de facto eine schulpolitische Vollbremsung bewirkt. Die bildungspolitische Selbstblockade bei einzelnen Entscheidungen resultiert direkt oder indirekt aus der Unmöglichkeit, zwischen Bund und Ländern eine gemeinsame Entscheidung herbeizuführen.

Aussortieren und kein Ende

Schier unglaublich ist, dass Deutschland seine Schülerschaft mit zehn Jahren trennt und auf Schulformen verteilt, die sich direkt auf die Lebens- und Beteiligungschancen jedes einzelnen Menschen auswirken. Dabei ist das schlicht nicht mit den hohen Verfassungsgrundsätzen der Gleichheit und Selbstentfaltung vereinbar. In Deutschland ist diese Trennungspolitik dennoch eine bare Selbstverständlichkeit.

So findet sich in der Verfassung eine Art staatspolitischer und grundrechtlicher Widerspruch: Es ist Privatschulen untersagt, zur Sonderung der Schülerschaft nach wirtschaftlichen Verhältnissen beizutragen. Das wird von allen Bürgern akzeptiert. Gleichzeitig ist es aber völlig normal und gesellschaftlich anerkannt, dass Gymnasien das Verbotene tun: die Schülerschaft nach wirtschaftlichen Verhältnissen zu sondern. Eben dies ist ja gerade die historische Idee der gegliederten Schule – die Gesellschaft zu trennen.

Deswegen fällt es den Deutschen auch so schwer, das völkerrechtlich verbindliche Verbot eines Schulwesens unterhalb der allgemeinbildenden Schule in die Tat umzusetzen. Erstens gibt es die heute „Förderschulen“ genannten Einrichtungen seit dem 18. Jahrhundert samt Profession – und beide, Sonderschulen wie Sonderpädagogen, kämpfen zäh um ihr institutionelles Überleben. Zweitens sind es Normalbürger nicht gewohnt, dass die besonderen, die so genannten behinderten Schüler in die Schule ihrer Kinder gehen – und seien es nur die „Lernbehinderten“, die in den Sonderschulen 60 Prozent der Klientel ausmachen.

Was das alles mit der kommenden Bundestagswahl zu tun hat? Leider mehr als uns lieb sein kann. Nur ein solch weiter Ausflug in die Mentalitäts- und Bildungsgeschichte zeigt, dass bildungspolitische Wahlprüfsteine für Bundestagswahlen ein Widerspruch in sich sind. Wenn eine Bundespartei, wie etwa die CDU, in ihrem Bundesprogramm die Hauptschule aufgibt, dann ist das historisch ein bedeutender Schritt – der aber weder für die Landesverbände noch für die Länder selbst von Bedeutung ist. Deswegen sind Forderungen im Hinblick auf das Bildungssystem, seine Zielsetzungen und Entwicklungspfade vor einer Bundestagswahl zwar noch lange nicht unwichtig. Es ist nur die Frage, ob die Parteien dafür die richtigen Adressaten und institutionellen Gehäuse sind. Mit anderen Worten: Bildungsreformvorschläge sollten von vornherein parteien- und grenzübergreifend formuliert sein und gesamtgesellschaftliche mehr noch als gesamtstaatliche Gültigkeit besitzen. Sie müssen das Bildungsproblem zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Ganzes anfassen.

Es verwundert wenig, dass in den vergangenen Jahren eine Vielfalt gesellschaftlicher Akteure auf dem Gebiet der Bildungspolitik neu entstanden ist – Akteure, die die selbstblockierte staatliche Politik ganz offensichtlich satt haben. Dazu zählen Stiftungen, kleine Initiativen, Sozialunternehmer oder auch Pro-bono-Projekte und Selbsthilfevereine der Industrie.

Worin also bestehen, abschließend, die fundamentalen Facetten der Krisen unseres Bildungssystems? Da ist erstens die „Goethe-Krise“. Sie steht für die schlechten Leistungen und die Bildungsarmut, die das gegliederte Schulsystem produziert. Da gibt es zweitens die organisierte Verantwortungslosigkeit des Bürokratismus der Kultusbehörden, der Dauerfehde zwischen Bund und Ländern und der zersplitterten Zuständigkeiten für die Schulen auf der lokalen Ebene. Da is drittens die „Odenwald-Krise“. Sie rührt daher, dass die über viele Jahrzehnte stabile Alternative zum exklusiven Schulsystem, die Reformpädagogik, durch systematischen sexuellen Missbrauch desavouiert ist; die Reformpädagogik und ihr prototypischer Vertreter, die Odenwaldschule, haben Nähe propagiert – und sexuelle Gewalt zugelassen. Viertens erleben wir den Online-Tsunami. Er bedeutet, dass die Schulen nicht nur in ihrer Struktur und ihrem Lernarrangement, sondern auch in ihrer technischen Ausrüstung nicht ins 21. Jahrhundert passen. Wie Lernen 2.0 aussehen kann, ist noch unerforscht. Aber die Kreidetafel, das Verbot von Handys im Unterricht und die Existenz isolierter Computerräume können nicht die Zukunft sein.

Die nächste Regierung muss endlich etwas wollen

Deshalb braucht Bildungsdeutschland jetzt einen von Staat und Gesellschaft getragenen Zukunftsfonds, der gezielt Gelder ins Bildungssystem gibt – abseits der Modernisierungsblockade namens Föderalismus. Das Geld wird gebraucht für technische und pädagogische Modernisierung, für eine erneuerte Schulleiterausbildung sowie für eine gezielte Schulentwicklung. Den deutschen Schulen gehen ja nicht zuerst die Lehrer, sondern vorher die Schulleiter aus. Ohne Schulleitung gibt es jedoch keine Schulentwicklung. Schon derzeit jedoch fehlen tausende Rektoren im ganzen Land. Momentan gibt es in 16 Bundesländern 17 verschiedene Lehrerbildungen. Deshalb brauchen wir eine Schulleiter- und Schulentwicklungsakademie, die pädagogische Fähigkeiten sowie Leitungskompetenzen vermittelt. Zudem gibt es in Deutschland miserable Schulen, die durch schulstrukturelle und regionale Effekte entstehen. Diese Bildungsghettos verschlechtern Zukunftschancen auf unzulässige Weise. Die negativen differenziellen Lernmilieus müssen aufgelöst werden – sei es durch Abschaffung oder durch Umwandlung.

Ein solches Wahlprogramm passt spezifisch zu keiner Partei. Es wäre ein Programm, das die einzelne Schule durch die Bereitstellung von Know-how, Personal und Finanzmitteln dazu ermächtigt, sich auf die Anforderungen vorzubereiten, „Schule der Zukunft“ zu werden. Damit das gelingt, muss die nächste Regierung endlich den Realitäten ins Auge blicken. Bildung ist längst eine zentrale wettbewerbsrelevante Ressource unserer Volkswirtschaft – wer sie nicht nutzt, verschläft die Zukunft.

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