Die Suche nach dem Bruttoglücksprodukt

Wo materielle Probleme fortbestehen und jedes sechste Kind in Armut aufwächst, wäre allgemeiner Wachstumspessimismus fehl am Platz. Doch im 21. Jahrhundert müssen wir mehr als bisher danach fragen, zu welchem Preis und zu welchem Zweck wir Wachstum erzielen

Was macht den Wohlstand eines Landes aus? Die konventionelle Antwort auf diese Frage lautet seit über 70 Jahren: die Summe aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres hergestellt werden – das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Als Maßzahl der marktbasierten Produktionsleistung erfüllt das BIP seinen Zweck recht gut, und für nicht mehr als dies wurde es von seinen Erfindern in den Vereinigten Staaten nach der Great Depression einst geschaffen.

Doch obwohl es nicht dafür konzipiert wurde, etablierte sich das BIP im Kontext des Kalten Krieges in der Öffentlichkeit zum zentralen Indikator für das Wohlergehen von Nationen, und die Höhe seines Wachstums kommt noch heute einer Kopfnote für die jeweilige Regierung gleich. Gerade auch in Krisenzeiten verfolgen Medien und Wähler die Entwicklung des BIP mit Argusaugen. Werden in den Abendnachrichten seine neuesten Schwankungen verlautbart, scheinen sie die Lage der Nation bedeutungsschwer zusammenzufassen.


Die wesentlichen Vorteile des BIP liegen auf der Hand: Unterschiedliche Größen und Güter lassen sich in einer einzigen Zahl ausdrücken, und diese wiederum ermöglicht nach Berücksichtigung der Kaufkraftparität internationale Vergleiche. Zudem erlaubt das BIP Rückschlüsse darauf, inwiefern in einem Land das Vermögen der Bürger gemehrt und deren Bedürfnisse befriedigt werden können. Unter Ökonomen sind die Defizite dieser Maßzahl jedoch hinlänglich bekannt. So sagt das BIP weder etwas über die Verteilung des Reichtums innerhalb eines Landes aus, noch darüber, ob das Geld tatsächlich für die Verbesserung der Lebensumstände der Bürger eingesetzt wird. Außerdem werden Aspekte wie Nachhaltigkeit, Ressourcenverbrauch oder der Zustand der sozialen Sicherungssysteme nicht berücksichtigt. Auch finden sämtliche Transaktionen jenseits des Marktes wie unbezahlte Tätigkeiten (Nachbarschaftshilfe, Haushaltsarbeit, und so weiter) keinen Eingang in die Berechnung. Kurz gesagt: Das Bruttoinlandsprodukt steigt, wenn man mit dem Auto im Stau steht oder wenn in der Nordsee ein Öltanker kentert, nicht aber, wenn Ehrenamtliche benachteiligten Kindern bei den Hausaufgaben helfen.

All diese Unzulänglichkeiten haben der Verwendung des BIP als primäres Maß für das Wohlergehen über lange Jahrzehnte dennoch keinen Abbruch getan. Bis jetzt. Mittlerweile diskutieren die OECD, die Europäische Kommission und zahlreiche Staaten auf internationaler Ebene, wie das BIP durch ein neues System von Indikatoren ersetzt oder zumindest ergänzt werden kann. Eine solche Frage ist in der Tat von zentraler Bedeutung für unsere Gesellschaften, denn wie wir unseren Wohlstand mehren, hängt natürlich davon ab, wie wir ihn messen. Genau deshalb hat Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy eine mit Nobelpreisträgern wie Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Daniel Kahneman besetzte Expertenrunde einberufen, um neue Maßstäbe zur Messung von ökonomischer Leistung und sozialem Fortschritt entwickeln zu lassen. Diese so genannte Stiglitz-Kommission fordert einen Paradigmenwechsel: Statt wie bisher vor allem die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung (economic production) zu messen und erhöhen zu wollen, müsse der Fokus der Politik und der ihr zuarbeitenden Statistikämter in Zukunft auf der Erfassung und Verbesserung des allgemeinen Wohlergehens (people’s well-being) liegen.

Die Lebensqualität rückt in den Fokus

Die Verwendung des Bruttoinlandsproduktes als primärer Indikator spiegelt die materialistische Grundorientierung des mittleren 20. Jahrhunderts wider, einer Zeit des Krieges, der Armut und des Verzichts. Inzwischen hat es aufgrund des konstant gestiegenen materiellen Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg einen Bewusstseinswandel hin zu postmateriellen Werten gegeben. Außerdem sind die westlichen Gesellschaften sensibler geworden für die Endlichkeit von Ressourcen, für den Klimawandel und die sozialen Grenzen des Wachstums. All diese Entwicklungen legen nahe, dass die Politik in den wohlhabenden Ländern nunmehr stärker auf die Erhöhung der Lebensqualität der Bevölkerung abzielen muss.

Das Konzept der Lebensqualität wird in den Sozialwissenschaften jenseits der Ökonomie bereits seit einigen Jahrzehnten diskutiert. Erst jetzt rückt es auch stärker in den Fokus der Öffentlichkeit und des volkswirtschaftlichen Mainstreams. Die Lebensqualität von Personen und Nationen lässt sich demnach mittels „objektiver“ wie „subjektiver“ Indikatoren messen. Objektive Maßzahlen umschreiben die äußerlichen Lebensbedingungen: Arbeitslosigkeit, Kriminalitätsrate, Lebenserwartung, Anzahl der Ärzte pro Einwohner, Gesamtfläche an Parks in einer Stadt in Quadratmetern – die Liste ließe sich beliebig lang fortführen.

Was auf den Wohlfahrtsindex gehört

In diesem Zusammenhang vertritt der Ökonom Amartya Sen die Auffassung, dass wir das maximieren sollten, was er die „Verwirklichungschancen“ (capabilities) der Menschen nennt. Seine Theorie bildet die philosophische Grundlage des Human Development Index der Vereinten Nationen, der jährlich eine einzige Maßzahl aus den Komponenten Einkommen, Lebenserwartung und Bildung generiert, um Länder miteinander vergleichen zu können. Die Frage, welche Elemente in einen solchen allumfassenden Wohlfahrtsindex einfließen, ist jedoch kontrovers und letztlich politischer Natur. Ist etwa Einkommensgleichheit ein erstrebenswertes Ziel? Und hat man sich schließlich auf eine Reihe von Dimensionen geeinigt, muss noch über deren Gewichtung entschieden werden. Beispielsweise: Wie viele Jahre Lebenserwartung ist ein Bildungsabschluss wert?

Genau solche Fragen müssen wir uns stellen, um dem Bruttoinlandsprodukt mit all seinen Schwächen als dominanten Gradmesser für das Wohlergehen unserer Gesellschaft eine realistische Alternative entgegenzusetzen – entweder in Form von mehreren, parallel existierenden Einzelindikatoren oder gar als Gesamtindex der Lebensqualität. Der Canadian Index of Well-Being oder auch der European Quality of Life Survey können hier wichtige Denkanstöße geben. Ähnliche Initiativen gibt es zum Beispiel auch in Australien und Großbritannien. Weil das Ziel von Politik davon abhängt, woran wir ihren Erfolg bemessen, haben wir es hier mit einer gesellschaftlichen Kernfrage des 21. Jahrhunderts zu tun. Eine breite öffentliche Debatte darüber ist dringend nötig.

Die Stiglitz-Kommission etwa fordert, das Wohlergehen der Menschen in folgende Dimensionen zu unterteilen: materieller Lebensstandard (Einkommen, Konsum und Reichtum), Gesundheit, Bildung, persönliche Aktivitäten einschließlich Arbeit, politische Mitbestimmung und Regierungsführung, soziale Netzwerke und Beziehungen, Umwelt, ökonomische und physische Sicherheit. Bei der Maximierung all dieser Dimensionen soll laut der Stiglitz-Kommission zudem der Aspekt der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden.

Gleichzeitig betont die Expertenrunde die große Bedeutung subjektiver Indikatoren, die berücksichtigen, dass die Lebensqualität wesentlich im Auge des Betrachters liegt. Gemessen wird die Zufriedenheit (sprich das „subjektive Wohlbefinden“ oder auch „Glück“) der Bürger mit ihrem Leben und bestimmten Teilaspekten. In ihren Umfragen stellen das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) oder der World Values Survey auch der deutschen Bevölkerung regelmäßig folgende Frage: „Wie zufrieden sind Sie im Allgemeinen mit Ihrem Leben heute?“ Über statistische Analysen kann die neu etablierte akademische Glücksforschung die Faktoren von hoher Lebenszufriedenheit herausfiltern. Demnach ist vor allem die Qualität unserer menschlichen Beziehungen – unser soziales Kapital – von entscheidender Bedeutung.

Subjektive Indikatoren der Lebensqualität geben Auskunft darüber, wie Menschen ihre Lebensbedingungen wahrnehmen und bewerten – und haben entscheidende Vorteile gegenüber den oben genannten objektiven Maßzahlen. Während die objektiven Indikatoren immer eine normative Annahme darüber abbilden, was die „gute Gesellschaft“ ausmachen sollte, wird dieses Urteil bei den subjektiven Indikatoren den Befragten selbst überlassen. Somit ist diese Vorgehensweise inhärent demokratisch und ideologiefrei. Außerdem wird das oben beschriebene Problem umgangen, einzelne Aspekte eines übergreifenden objektiven Wohlfahrtsindexes selektieren und gewichten zu müssen. Die Gewichtung der Faktoren wird nämlich vom Befragten selbst vorgenommen und in seiner Antwort zusammengefasst. Dies ist besonders relevant, weil bestimmte Präferenzen und die Bedeutung einzelner Aspekte für die Lebenszufriedenheit zwischen Individuen und Nationen variieren können.

Wann erreicht die Debatte auch Deutschland?

Der kleine Himalaya-Staat Bhutan ist deshalb sogar so weit gegangen, den Wohlstand seines Landes am „Bruttoglücksprodukt“ festzumachen. Zudem haben mehrere europäische Länder bereits politische Schlussfolgerungen aus der Lebensqualitäts- und Glücksforschung gezogen. Nun ist es an der Zeit, dass die internationale Debatte um Wohlfahrtsmessung und -politik endlich auch in Deutschland aufgegriffen wird.

Zwei Ziele müssen langfristig erreicht werden: Erstens sollte sich die Politik stärker zu Sozialindikatoren wie im jährlich erscheinenden Datenreport als Maßzahlen für Erfolg und Misserfolg bekennen. Die Stiglitz-Kommission merkt zu Recht an, dass der primäre Fokus auf ein kurzfristiges Wachstum des BIP und die damit verbundene Denkweise unsere Entscheidungsträger nicht zuletzt für die ersten Anzeichen der aktuellen Wirtschaftskrise blind gemacht hatte. Zweitens müssen Wähler und Medien die Politik nach Lebensqualitätsindikatoren beurteilen – dann wird sich in einer funktionierenden Demokratie das erstgenannte Ziel schon automatisch einstellen.

Bloss kein allgemeiner Wachstumspessimismus

Mehrere deutsche Parteien beginnen bereits umzudenken: Die SPD-Bundestagsfraktion befürwortet seit Januar 2010 einen neuen Fortschrittsindikator anstelle des BIP, der die Dimensionen Lebensqualität, Umwelt, Bildungsniveau und Teilhabe berücksichtigen soll. Kanzlerin Angela Merkel sprach sich – wenn auch noch recht vorsichtig – im Februar 2010 dafür aus, über „neue Formen des Wohlstands“ zumindest zu diskutieren. Die Grünen und die SPD schließlich fordern eine Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zum Thema „Qualitatives Wachstum“. Eine solche Kommission könnte die gesellschaftliche Diskussion über einen neuen Wohlstandsbegriff kanalisieren und befördern – und ausloten, was die Politik tun kann. Aus diesem Grund ist dieser Vorstoß sehr zu unterstützen.

Wohlgemerkt: Bei all dem dürfen wir nicht in einen allgemeinen Wachstumspessimismus abgleiten. Dies können wir uns in Zeiten, in denen jedes sechste Kind in Deutschland in einer Familie mit einem Jahreseinkommen von weniger als 8.000 Euro aufwächst, nicht leisten. Wir haben unsere materiellen Probleme noch keineswegs hinter uns gelassen.

Zwar trifft es zu, dass ökonomisches Wachstum in der westlichen Welt seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mit einem Anstieg der Lebenszufriedenheit einhergegangen ist. Das hat die Glücksforschung herausgefunden. Auch nimmt die Korrelation zwischen Geld und Lebenszufriedenheit ab einem Niveau von etwa 10.000 Euro BIP pro Kopf rapide ab, weshalb in reichen Ländern andere Faktoren ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken müssen.

Es wäre jedoch falsch, Wachstum als Ziel gänzlich fallen zu lassen. Allerdings würde ein politischer Fokus auf Lebensqualität in einem Wachstum resultieren, das ein „Besser“ und nicht ein „Mehr“ bewirkt, das natürliche Ressourcen und die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt, das nicht an bedürftigen Bevölkerungsgruppen vorübergeht. In Zukunft muss es eine größere Rolle spielen, zu welchem Preis und zu welchem Zweck wir Wachstum erzielen, wann die Steigerung von BIP und Lebensqualität in Konflikt zueinander stehen, und – vor allem – wo sich aus beiden Indikatoren Win-win-Situationen ergeben. «

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