Die Rückkehr der sozialen Ungleichheit

In den Gesellschaften des Westens wächst die Ungleichheit - und sie wird zunehmend sogar als neue Normalität akzeptiert. Wer unter diesen Bedingungen für eine egalitärere Gesellschaft kämpft, muss die Wachstumsschädlichkeit und das demokratiegefährdende Risiko hoher Ungleichheit in den Mittelpunkt der Argumentation rücken

Was den Umgang mit Ungleichheit angeht, stehen sich zwei Lager verständnislos gegenüber: Da sind zum einen die Ungleichheitskritiker, die in jeder Ungleichheit zugleich eine Ungerechtigkeit erkennen möchten. Zum anderen gibt es die Ungleichheitsbefürworter, die Ungleichheit als notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Dynamik und Prosperität ansehen. Die Zugehörigkeit zu einem der beiden Lager entscheidet darüber, ob man sich mit wachsender Ungleichheit zufrieden gibt – oder eben nicht.

Dabei lässt sich die Ungleichheitsfrage auch anders stellen. Dann nämlich, wenn man fragt, wie und wann Ungleichheit normativ, sozial und ökonomisch zum Problem wird: Wo unterminiert Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt, prosperierende Märkte und eine funktionierende Demokratie? Betrachtet man ausgehend von diesen Fragen den Strukturwandel der Ungleichheit, ergeben sich die kritischen Anschlussfragen schon fast von selbst, und man kann auf das übliche Lamento verzichten, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Dann geht es darum, welche Wirkungen bestimmte Verteilungsmodelle gesamtgesellschaftlich haben.

War der Wohlstand-für-alle-Kapitalismus eine historische Ausnahme?

Gründe, die Zwei-Lager-Welt zu verlassen, gibt es zur Genüge. Spätestens mit Thomas Pikettys formidablem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert hat sich das Ungleichheitsthema wieder ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Zwar versorgen uns die Sozialwissenschaften nun schon seit geraumer Zeit mit immer neuen Nachrichten über die sich immer weiter öffnende Ungleichheitsschere, aber Piketty bietet mehr als nackte Zahlen. Er behauptet, ein ebenso eingängiges wie umstrittenes Muster erkennen zu können: Über einen längeren Zeitraum betrachtet übertrifft die Rendite auf Kapital das Wirtschaftswachstum – und damit das Wachstum der Einkommen aus Erwerbsarbeit. Dies führe unweigerlich zu einer verstärkten Vermögenskonzentration. Statt eines Trickle-down-Effekts hätten wir es also mit einem Trickle-up-Effekt zu tun! Das so genannte Goldene Zeitalter nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das durch starkes Wirtschaftswachstum, beträchtliche Einkommenssteigerungen und eine ausgeglichene Vermögensverteilung gekennzeichnet war, wird aus dieser Perspektive zur historischen Ausnahme. Piketty zufolge handelt sich dabei um eine Abweichung vom allgemeinen Trend, da mit der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Vermögensnivellierung einsetzte, die durch den Ausbau des Sozialstaates noch einmal verstärkt wurde: Die Bezieher von Erwerbseinkommen konnten ihre Anteile am Kuchen in dieser Zeit deutlich vergrößern, während sich die Anteile der Kapitalbesitzer verringerten. Ohne die umfassende Regulierung des Marktes übertreffe die Kapitalrendite die Zuwächse der Arbeitnehmereinkommen jedoch deutlich. Pikettys These: Der Wohlstand-für-alle-Kapitalismus sei eine historische Ausnahme und der Ungleichheitskapitalismus der Normalfall.

Dabei hatte man sich die Entwicklung in den sechziger und siebziger Jahren, als der Sozialstaat kräftig expandierte, ganz anders vorgestellt. Damals ging man ­davon aus, dass der entfesselte Kapitalismus in der Frühphase der Industrialisierung und seine wohlfahrtsstaatliche Zähmung zwei aufeinanderfolgende evolutionäre ­Prozesse der Modernisierung seien. Wenn dieser Prozess auch nicht als prinzipiell unumkehrbar angesehen wurde, so weiteten sich soziale Bürgerrechte doch sukzessive aus, während soziale Ungleichheiten zumindest in den Industrienationen des Westens sozialpolitisch eingedämmt wurden. Vor diesem Hintergrund vertrat Ralf ­Dahrendorf, Vordenker des Sozialliberalismus, Anfang der achtziger Jahre seine ­These vom „Ende der Sozialdemokratie“: Er behauptete damit nicht etwa den Niedergang sozial­demokratischen Gedankenguts, sondern im Gegenteil seine ­allgemeine Verbreitung und Durchsetzung, weil vieles von dem, was die Arbeiterbewegung einst gefordert hatte, zum demokratischen Konsens der industriekapitalistischen Gesellschaften des ­Westens geworden sei. Das sozialdemokratische Projekt – nicht als Programm einer Partei, sondern als Programm einer Epoche – ist Dahrendorf zufolge im 20. Jahrhundert in den westlichen Gesellschaften auf ganzer Breite verwirklicht worden. Am Ende des Jahrhunderts, schrieb Dahrendorf im Jahr 1983, „sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden“. Mission completed, so sein Befund. Auch das Ungleichheitsproblem sei gelöst.

Die Spitzen der Einkommenshierarchie gewinnen, der »Rest« kriecht hinterher

So ist es nicht gekommen, trotz der unbestrittenen Beharrungskraft der sozialpolitischen Kerninstitutionen. Denn: Die Ungleichheit wächst wieder. Damit stellt sich auch die Frage nach der Rechtfertigung und dem Nutzen oder Schaden von Ungleichheit neu. Die groß angelegten Ungleichheitsstudien der OECD haben gezeigt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in der gesamten westlichen Welt wächst. In den englischsprachigen OECD-Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien begann diese Entwicklung bereits in den siebziger Jahren, spätestens seit den neunziger Jahren betrifft das Problem aber auch Länder mit einer traditionell eher ausgeglichenen Verteilungsstruktur, etwa Dänemark, Schweden oder Deutschland. Die Muster gleichen sich: Die Spitzen der Einkommenshierarchie gewinnen, der „Rest“ kriecht hinterher oder fällt sogar zurück. Zwar ist die Einkommensungleichheit in Deutschland geringer als in vielen anderen Ländern der Europäischen Union (vor allem den osteuropäischen Nachbarländern), aber auch hierzulande entwickeln sich die Löhne im langfristigen Trend auseinander. Mitte der achtziger Jahre verdienten hierzulande die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Heute liegt das Verhältnis bei sieben zu eins. Von 1999 bis 2009 wuchsen die verfügbaren Realeinkommen der Haushalte gerade einmal um drei Prozent. Bei 80 Prozent der Bevölkerung kam diese Steigerung aber nicht an, am unteren Ende der Einkommenshierarchie gab es sogar reale Einkommensverluste. Die Hauptursache für diese Einkommensspreizung ist das marktgetriebene wachsende Gefälle zwischen hoch- und geringqualifizierter Arbeit. Hinzu kommen die Schwächung gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht und die Durchlöcherung betrieblicher Tarifbindung, die vor allem für mittel- oder geringqualifizierte Beschäftigungsgruppen von Bedeutung ist. Auch die an die Lohnentwicklung gekoppelten Sozialleistungen waren von der stagnierenden Einkommensentwicklung betroffen.

Im hoch qualifizierten Segment der Beschäftigtenpyramide konnten wir hingegen beobachten, dass sich die oberen Einkommensgruppen immer weiter absetzen, zum Beispiel in der Finanz- und Versicherungswirtschaft oder in der IT-Branche. Mit dem technologischen Wandel wurden bestimmte Qualifikationen systematisch aufgewertet, was den technisch gut ausgebildeten Beschäftigten privilegierte Marktpositionen verschafft. In vielen Bereichen haben sich zudem so genannte Winner-takes-all-Märkte ­herausgebildet, auf denen zwischen den Anbietern zwar nur sehr geringe Leistungsunterschiede, aber extreme Unterschiede in Bezug auf den Erfolg bestehen, so dass die Gewinnanteile der Erfolgreichen die Differenzen in der Ausstattung an Humankapital bei Weitem übersteigen. Asymmetrische Ökonomien der Aufmerksamkeit und Netzwerke wechselseitiger Vorteilsgewährung stabilisieren diese Marktpositionen. Diese können also nicht allein durch die Nachfragesituation an den Märkten erklärt werden. Zahlreiche, fast lehrbuchhafte Beispiele deuten darauf hin, dass das Allokationssystem Markt so genannte Matthäus-Effekte hervorbringt: Erfolge bringen immer neue Erfolge hervor, so dass die Differenzen in den Ausgangspositionen verstärkt werden. Die Chancen zur Durchsetzung der eigenen Einkommensinteressen scheinen zunehmend ungleich verteilt zu sein.

Was die jüngeren Entwicklungen angeht, so haben der relativ starke Beschäftigungszuwachs nach 2005 und die besseren Tarifabschlüsse in den vergangenen drei Jahren zu einer moderaten Steigerung bei den Realeinkommen geführt. Auch ist die Ungleichheit der Haushaltseinkommen leicht gesunken, allerdings weit weniger als man angesichts der erheblich gesunkenen Arbeitslosigkeit erwarten würde. So gesehen führt die Rede von einer Trendumkehr in die Irre, denn die Ungleichheit verbleibt auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat zudem gezeigt, dass sich die Ungleichheit der Lebenseinkommen – also die kumulierten Einkommen – im Vergleich zu den 1935 und 1972 Geborenen verdoppelt hat. Für einen großen Teil der jüngeren Einkommensbezieher wird es kaum noch möglich sein, aus eigener Anstrengung ein nennenswertes Vermögen anzusparen. Zugleich ist allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung zu erwarten, dass mit dem Abtritt der älteren Generationen die Gesamtungleichheit weiter steigen wird. Empirisch lässt sich darüber hinaus feststellen, dass die Einkommensmobilität am oberen und unteren Ende der Verteilung schwächer wird, während die Volatilität in der Mitte leicht zunimmt. An den Rändern – also bei den Armen und den Wohlhabenden – gibt es also Verfestigungstendenzen, während die Mitte zunehmend mit Statusunsicherheiten zu kämpfen hat.

In keinem Euroland sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland

Auch bei den Vermögen und den Vermögenseinkünften tut sich einiges. Im Zeitfenster der vergangenen 25 Jahre lässt sich ein stärkeres Wachstum der Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Vergleich zu den Erwerbseinkommen beobachten; beide driften auseinander. Die Erträge der gesamtwirtschaftlichen Leistungssteigerung sind heute also weniger gleich verteilt. Zudem tun steuerpolitische Weichenstellungen – etwa die Senkung der Unternehmenssteuern, die pauschale Besteuerung von Kapitalerträgen durch die Abgeltungssteuer oder die privilegierte erbschaftliche Übertragung von Familienunternehmen – ihr Übriges, so dass sich die Ungleichheitsschere nicht ohne Weiteres schließen lässt. Zwar schmolzen im Zuge der Finanzmarktkrise die Vermögen und die Kapitalrenditen etwas ab, aber anschließend kam es relativ schnell zu Erholungsgewinnen. Die Aktien- und Immobilienmärkte stellen besonders attraktive Plätze zur Kapitalmehrung dar. Die Finanzmarktkrise ist demnach nicht mehr als eine Delle gewesen.

Mit dem Instrumentenkasten der empirischen Sozialwissenschaften auf die Entwicklung des Vermögens en détail zu schauen, ist allerdings ein schwieriges Unterfangen. Für Längsstudien stehen nur lückenhafte und qualitativ unzureichende Daten zur Verfügung, die Hochvermögenden tauchen auf den Radarschirmen der Surveyforschung kaum auf. Auf die Euroländer ausgerichtete Vergleichsdaten der Europäischen Zentralbank zeigen, dass der mittlere Haushalt in Deutschland über relativ geringe Vermögenswerte verfügt. Ein Grund dafür ist die breite und vergleichsweise gute Absicherung durch die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere durch die Rentenanwartschaften. Akkumulierte Ansprüche auf Versorgung im Alter sind nicht zuletzt ein Substitut familialer und individueller Vermögensakkumulation. In Deutschland sorgt zudem die recht niedrige Wohneigentumsquote für ein weniger hohes Vermögensniveau. Allerdings sind die Vermögen in keinem anderen Euroland so ungleich verteilt wie in Deutschland. Die neusten Berechnungen des DIW legen nahe, dass die bisherigen Annahmen zu Vermögensvolumen und -verteilung nach oben korrigiert werden müssen: Das Privatvermögen wird nun auf 8,5 bis 9,3 Billionen Euro (statt wie bisher auf 6,3 Billionen) geschätzt. Dem reichsten einen Prozent der Bevölkerung dürfte demnach etwa ein Drittel dieses Vermögens gehören; auf die obersten zehn Prozent entfallen 63 bis 74 Prozent des Vermögens. Wie gesagt: Selbst Finanzkrise und Niedrigzinsphase – eigentlich Nivellierungsimpulse – haben wenig an dieser Verteilung geändert.

Was bedeutet das nun? Mit einer gewissen Vorsicht könnte man davon ausgehen, dass wir uns am Übergang von einer durch ungleiche Erwerbseinkommen strukturierten Gesellschaft hin zu einer stärker auf Besitz von Vermögen gegründeten ­Sozialordnung befinden: Status durch Vermögen ersetzt (oder überlagert) den Status durch Erwerb. Dazu trägt bei, dass sich mit größerer Ungleichheit die soziale Mobilität verringert, also auch die Aufstiegschancen abnehmen. In der Generationenfolge führt das zu einer zunehmenden Vererbung von Statuspositionen, so dass die Zufälligkeit der Geburt größeres Gewicht gegenüber eigenen Anstrengungen und Leistungen erhält. Ohne politische Gegenmaßnahmen kann man hier mit einem langfristigen Kumulationseffekt rechnen, bei dem die „Gewinner der Spermienlotterie“, wie es der amerikanische Multimilliardär Warren Buffett einmal ausdrückte, ihren Vorsprung weiter ausbauen.

Steht das »Ende der Aufstiegsgesellschaft« bevor?

Einschlägige Untersuchungen attestieren Deutschland immer wieder eine vergleichsweise starke Prägekraft des sozioökonomischen Hintergrundes für Bildungs- und Einkommenschancen. Investitionen in frühkindliche Bildung, verstärkte Förderanstrengungen von Schulen und Veränderungen der organisatorischen Struktur von Bildungsinstitutionen gelten als wirksame Mittel, um den Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunft von Kindern und Jugendlichen zu entkoppeln. In jüngerer Zeit zeigen sich hier leichte Tendenzen der Verbesserung, ohne dass Deutschland zum Vorreiter der Bildungsgerechtigkeit mutieren würde. Andererseits haben wir die Expansionsphase der Mittelschicht hinter uns gelassen, die bis Ende der achtziger Jahre dafür sorgte, dass Aufstiegsmobilität in die gesellschaftliche Mitte hinein eine wichtige Kernerfahrung vieler gesellschaftlicher Gruppen darstellte. Diese „Sättigung der mittleren Ränge“ lässt Aufstiegserfahrungen und -chancen erkennbar abnehmen, so dass mitunter schon vom „Ende der Aufstiegsgesellschaft“ gesprochen wird. Die Verbesserung von Bildungschancen scheint derartige Verfestigungen nur bedingt aufbrechen zu können. Zumindest was die oberen und die unteren Ränge der Gesellschaft angeht, gibt es durchaus Argumente für die These der „Refeudalisierung der Sozialstruktur“ (Sighard Neckel).

Auf dem Weg in die Ungleichheit haben die unterschiedlichen politischen Lager kräftig mitgemischt. Die „Krise der Gleichheit“ (Pierre Rosanvallon) ist nicht allein den neoliberalen Apologeten anzulasten, auch die Sozialdemokratie wurde von dem Trend erfasst, die wachsende Ungleichheit immer mehr zu tolerieren. Vor allem erfuhr die These gesellschaftliche Resonanz, man solle die Spitzen möglichst großzügig belohnen, um wirtschaftliche Dynamik auszulösen. Der Ungleichheitskult gipfelt in der mitunter äußerst expliziten Empfehlung, den oberen Gruppen weitere Gewinne nicht streitig zu machen. Peter Mandelson, einer der Vordenker des Dritten Weges der Sozialdemokratie in Großbritannien, ließ sich vor über zehn Jahren zu der Aussage hinreißen, er sei „intensely relaxed about people getting filthy rich as long as they pay their taxes”. Von einem solchen Ansinnen ist es dann in der Tat nicht weit zu einer „Sezession der Erfolgreichen“ (Zygmunt Bauman). Gemeint ist die soziale Distanzierung derer, die vermeintlich mehr können und deshalb mehr „verdienen“.

Wie die Oberschichten eine »Vermögensverteidigungsindustrie« aufbauen

Aber warum ist die Entwicklung hin zu größerer Ungleichheit von den Wählern politisch gestützt oder zumindest hingenommen worden? Warum geht politische Gleichheit mit ökonomischer Ungleichheit einher? Hier muss man zwischen unterschiedlichen Statusgruppen differenzieren. Wir wissen, dass sozial schwache Gruppen ihr aktives Wahlrecht immer weniger ausüben: Eine sinkende Wahlbeteiligung gibt es in fast allen westeuropäischen Demokratien, was vor allem die unteren Schichten betrifft. Diese Entwicklung wird durch eine sich öffnende Ungleichheitsschere noch einmal forciert. Die Folge: Sie werden von den Parteien immer weniger adressiert und können daher weniger Einfluss auf das gesellschaftliche Verteilungsspiel nehmen. Zugleich ist es den Oberschichten gelungen, eine „Vermögensverteidigungsindustrie“ aufzubauen, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Jeffrey A. Winters ausgedrückt hat. Dabei handelt es sich um eine Armee von Anwälten, Lobbyisten, Vermögensverwaltern, Beratern und Think Tanks, die sich darum kümmert, dass die Interessen der Vermögenden im politischen Spiel besondere Berücksichtigung finden. Das strategische Ziel dieser Akteure ist der Schutz von Vermögen und die Schaffung von optimalen Bedingungen für die Vermögensvermehrung. Dies gelingt auch deswegen, weil die dahinter stehenden Vermögen immer mehr zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden sind, die zu ignorieren für die Politik oft schlicht zu riskant ist.

Hingegen haben die Mittelschichten an Einflussmacht verloren. Im Unterschied zu den Oberschichten verfügen sie über weit weniger Exit-Drohpotenzial, das sie in erpresserischer Weise nutzen können, um die Politik dazu zu bewegen, ihnen Vorteile zu gewähren. Anders als Investoren, Vermögende oder Reiche sind sie in der Regel an den Nationalstaat gebunden und können ihren Steuersatz nicht durch Mobilität und Wohnortwahl selbst bestimmen, wie etwa Gérard Depardieu, um ein prominentes Beispiel zu nennen.

Vermutlich steckt hinter der wachsenden Toleranz für soziale Ungleichheit aber noch mehr. In der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer bis dahin nicht gekannten Aufwärtsmobilität breiter Wählerschaften, dem so genannten kollektiven Fahrstuhl nach oben. In gewisser Weise haben die materielle Besserstellungen der Mehrheitsklasse, die Vermögensbildung und Prozesse der Individualisierung den Weg zu einer eher skeptischen Sicht auf Umverteilungspolitik bereitet.

Was politische Gegenbewegungen gegen den Ungleichheitskult angeht, darf man heutzutage trotz eines weit verbreiteten Unbehagens an der Ungleichheit nicht allzu optimistisch sein. Die bisherigen Versuche, das Thema wahlpolitisch zu besetzen und in Stimmenzuwächse umzumünzen, sind zumindest in Deutschland nicht erfolgreich gewesen. Die Toleranz für Ungleichheit scheint beim Wähler wie bei den politischen Akteuren anhaltend hoch zu sein. Vorschläge zur Erhöhung von vermögensbezogenen Steuern, die höhere Belastung von Spitzeneinkommen oder auch die Begrenzung von Managergehältern sind zwar durchaus populär, finden letztlich aber keine stabilen Mehrheiten. Selbst der Schweizer Volksentscheid zur Deckelung von Manager­gehältern im November 2013 ist grandios gescheitert. Und in anderen europäischen Ländern kann man beobachten, dass Parteien, die sich eine Umverteilungspolitik auf die Fahnen geschrieben haben oder Vermögen stärker besteuern wollen, keinen Popularitätsbonus erhalten, sehen wir von Syriza in Griechenland und der spanischen Podemos Bewegung einmal ab.

Umverteilung als Wachstumsbremse? Gerade nicht!

Will man das Thema der Ungleichheit auf die Agenda setzen, muss man es vermutlich nicht nur als normatives, sondern auch als ökonomisches und soziales Problem kennzeichnen. Historische und internationale Vergleiche geben Anlass zu der Annahme, dass zu hohe Ungleichheiten wachstumsschädigend sein können und Umverteilung nicht pauschal als Wachstumsbremse zu disqualifizieren ist. Im Gegenteil: Länder mit geringerer Ungleichheit nach Umverteilung weisen im Durchschnitt sogar höhere Wachstumsraten auf als Länder mit ausgeprägt hohen Einkommensgefällen. Bei großen Ungleichheiten kann es zu Marktverzerrungen oder Wachstumsproblemen kommen. So fließen Reichtumszuwächse überproportional in die Finanzmärkte, was diese stark aufbläht und zu Marktüberhitzungen führen kann. Ohne Einkommensgewinne in der Breite sinken die Konsumnachfrage und das Wachstum, zugleich steigt die Neigung zum Konsum auf Pump. Laut einer jüngeren OECD-Studie wäre das Wirtschaftswachstum zwischen 1990 und 2010 um sechs Prozent höher ausgefallen, wäre die Einkommensungleichheit stabil geblieben. Schließlich gilt auch, dass derartige Ungleichheiten die Marktprinzipien selbst unterminieren können, etwa wenn Wettbewerbsvorteile beziehungsweise -nachteile auf Dauer gestellt werden und das Prinzip des fairen Wettbewerbs ausgehöhlt wird. Auch für Märkte gilt: Die Zufuhr an Legitimation ist an gesellschaftliche Vorbedingungen geknüpft, die sie selbst nicht zu reproduzieren wissen.

Die Kritiker der Ungleichheit sollten sich, wollen sie sich nicht auf abstrakte Gleichheitsideale verlassen, an Maßstäben orientieren, die in der Gesellschaft selbst existieren. Das meritokratische Ideal etwa betont die Bedeutung von Leistungsgerechtigkeit, daneben aber auch soziale Teilhabe und sozialen Ausgleich – zwei ­gesellschaftliche Ziele, die nach wie vor hohe moralische Plausibilität genießen. Wo Ungleichheitsdynamiken diese Leitmaxime systematisch zu verletzen drohen, lässt sich die Frage nach der gerechten beziehungsweise ungerechten Ungleichheit pointierter stellen. Ein angemessener Umgang mit der Ungleichheitsfrage kann letztlich nur darin bestehen, gesellschaftliche Gerechtigkeitsansprüche politisch aufzunehmen und zu adressieren. Statt sich einem Betroffenheitsgestus hinzugeben, sollten wir normative mit funktionalen Fragen koppeln.

Zweifellos brauchen wir eine erneuerte Idee von Verteilungspolitik, um ökonomische Effizienz, Fairness und ein breites Angebot an Lebenschancen miteinander in Einklang zu bringen. Sonst droht nicht nur eine Wiederkehr der Ungleichheit, sondern ihr fortwährender Triumph. Die bisherigen Instrumente der Ungleichheitspolitik müssen nicht nur überdacht werden, es bedarf auch neuer Akzente. Bildungspolitik – oft das Mittel der Wahl politischer Strategen – kann nur ein Instrument neben anderen sein, um Chancengerechtigkeit zu verwirklichen. Zusätzlich müssen wir an der relativ niedrigen Besteuerung von Kapital – im Verhältnis zu Erwerbseinkommen ansetzen. Was vermögensbezogene Steuern angeht (also Steuern auf Kapitaleinkünfte, Schenkungen, Erbschaften, Grundbesitz und bewertbares Eigentum allgemein), liegt Deutschland im OECD-Vergleich am unteren Ende der Belastungsskala. Will man – aus nachvollziehbaren Gründen – eine (höhere) Besteuerung der Vermögenssubstanz vermeiden, muss man neben den Kapitaleinkommen bei den Vermögenübertragungen ansetzen, konkret also bei den Erbschaften und Schenkungen.

Das kommende Jahrzehnt wird ein Jahrzehnt nie dagewesener Vermögensübertragungen sein. Während heute etwa 250 Milliarden pro Jahr vererbt werden, werden es Mitte des nächsten Jahrzehnts noch einmal 100 Milliarden mehr sein. Die effektive Steuerlast bezogen auf die gesamte Erbmasse liegt derzeit bei gerade einmal zwei Prozent – viel zu niedrig also, um die weitere Steigerung der Vermögensungleichheit auch nur ansatzweise zu verhindern. Nimmt man gleichzeitig die in der Bevölkerung vorhandene Skepsis gegenüber dem staatlichen Zugriff auf Vermögensübertragungen innerhalb von Familien ernst, braucht man neue Ideen, anstatt das Thema weiter zu tabuisieren.

Die Idee des Lebenschancenkredits für alle

Ein von mir favorisiertes Modell ist der Lebenschancenkredit für alle. Der Lebenschancenkredit funktioniert nach dem Prinzip individueller Ziehungsrechte und ­würde als individuelles Anrechtskonto bis zum zwanzigsten Geburtstag durch einen jährlichen Beitrag aufgebaut werden. Finanzieren könnte man ein solches System durch eine moderate Erhöhung der Erbschaftssteuer. Der Lebenschancenkredit könnte für bestimmte vordefinierte Zwecke verwendet werden: für Weiterbildung, eine verbesserte Zeitsouveränität (um beispielsweise Kinder zu betreuen und Angehörige zu pflegen) und zur Abfederung neuer sozialer Risiken.

Das Modell des Lebenschancenkredits bietet eine Antwort auf die Pluralisierung von Lebensformen, die neuen Anforderungen bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die sich stetig transformierenden Herausforderungen im Arbeitsleben. Darüber hinaus lassen sich Verteilungsfragen geschickt mit Fragen der verbesserten Lebenschancen verbinden. Da der Lebenschancenkredit allen – also auch potenziellen Erben – zugutekäme, würde er voraussichtlich auch auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Darüber hinaus bietet das Modell den Vorteil, dass Erbschaften, die eine Quelle der zunehmenden Vermögenskonzentration darstellen, zur Verbesserung der Lebenschancen aller genutzt werden könnten. Ein solcher Weg ergibt sich allerdings nicht von allein. Dafür ist eine Politik vonnöten, die sich mit der Ungleichheit und deren stiller Akzeptanz nicht zufrieden gibt, sondern erkennt, welche Risiken die wachsende Ungleichheit in sich birgt.«

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