Die autoritäre Versuchung

EDITORIAL

Erdrutsch, Dammbruch, Zäsur, Fanal, neues politisches Zeitalter – dramatische Kategorien wie diese hören wir in jüngerer Zeit immer öfter, wenn deutsche und internationale Wahlergebnisse zu kommentieren sind. Sie alle wurden benutzt, um den Ausgang der Landtagswahlen am 13. März in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt (wenn auch erfreulicherweise nicht in Rheinland-Pfalz) zu beschreiben. Sie alle finden seit Monaten Verwendung, wenn Beobachter versuchen, das Phänomen Trump auf den Punkt zu bringen. Und sie kamen auch wieder am Abend des 24. April zum Einsatz, als die Resultate der Bundes-präsidentenwahl in Österreich eintrafen: Mehr als 35 Prozent für den Kandidaten der radikalautoritären FPÖ, gerade noch 20 Prozent für die beiden Kandidaten der „großen“ Volksparteien SPÖ und ÖVP zusammen! Wenn dies nicht die Rede von Erdrutsch, Dammbruch, Zäsur, Fanal und neuem politischen Zeitalter rechtfertigt, was dann? Gemessen an dem, was sich da gerade in Österreich abspielt, erscheinen die Verhältnisse bei uns in Deutschland noch geradezu beschaulich.

Aber was, wenn in den österreichischen Entwicklungen eine Botschaft auch für uns in Deutschland steckt? Suchen deutsche Journalisten ein Synonym für Österreich, dann fällt ihnen regelmäßig die „Alpenrepublik“ ein. Da klingt dann immer so ein bisschen mit, das Land sei eine abgeschiedene Landschaft irgendwo hinten in den Bergen. Das ist Österreich natürlich auch. Vor allem aber liefert Österreich seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert immer wieder Frühindikatoren dafür, in welche Richtungen sich politische Systeme, Parteiendemokratien und öffentliche Stimmungen auch anderswo in Europa entwickeln. Wer wissen will, wie es weitergeht in Politik und Gesellschaft, ist deshalb immer gut beraten, die „Alpenrepublik“ genau zu beobachten (weshalb es auch kein Zufall ist, dass in der Berliner Republik immer wieder namhafte österreichische Autoren vertreten sind, in diesem Heft Thomas Mayer und Robert Misik).

Ob in Österreich, Frankreich, Schweden, den Niederlanden, auf der Ebene der deutschen Bundesländer oder anderswo: Fast überall verläuft der Niedergang oder gar der (zuweilen auch „Pasokifizierung“ genannte) Zusammenbruch einst großer Volksparteien Hand in Hand mit dem Aufstieg autoritärer, nationalistischer und nativistischer politischer Bewegungen. Die „autoritäre Versuchung“ übt ihre Anziehungskraft offensichtlich in den verschiedensten einzelstaatlichen und einzelgesellschaftlichen Kontexten aus. Wir haben es tatsächlich, wie Manu Bhagavan in diesem Heft argumentiert, mit einem globalen Aufstieg der Autoritären und des Autoritären zu tun. Darum gilt: Solange wir nicht viel gründlicher verstehen, worin der gemeinsame Nenner der autoritären Tendenzen in den vielen unterschiedlichen Konstellationen unserer Zeit besteht, werden wir auch nicht imstande sein, die große autoritäre Welle wirksam zu brechen, die gerade auf uns zurollt. Deshalb das Schwerpunktthema des Heftes.

Und wo bleibt diesmal das Erbauliche? Nach den Recherchen unserer Autorinnen und Autoren ereignet es sich aktuell in Kanada, in Schottland und in Neukölln. Wer frischen Mut braucht für den Kampf gegen die Feinde von Demokratie und offener Gesellschaft, schlage am besten zuerst die Seiten 12, 17 und 94 auf.

zurück zur Ausgabe