Der wahre Marsmensch sitzt im Kreml

Der Ukraine-Konflikt zeigt, dass Europa nicht fähig ist, alleine für Sicherheit und Stabilität an seinen Grenzen zu sorgen. Statt amerikanische Militanz zu fürchten, sollten sich die Europäer eher über Washingtons Desinteresse Sorgen machen

Seit der amerikanische Journalist Robert Kagan vor über einem Jahrzehnt sein Buch Macht und Ohnmacht: Amerika gegen Europa in der neuen Weltordnung veröffentlicht hat, gibt es kaum einen transatlantischen Topos, der sich hartnäckiger hält: Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus.

Ursprünglich im Kontext des Irak-Krieges entwickelt, stößt Kagans These über Europas postmoderne Abkehr von der Machtpolitik immer noch auf große Resonanz. Sie passt sowohl zum pazifistischen Sendungsbewusstsein der Europäer als auch zu Amerikas Selbstverständnis als Verteidiger der freiheitlichen Weltordnung. Auch im Ukraine-Konflikt und besonders in der Frage von Waffenlieferungen schlagen Kommentatoren auf beiden Seiten des Atlantiks in diese Kerbe.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Und das ist in diesem Fall Moskau. Denn der Streit über Waffenlieferungen spielt dem Kreml gleich auf mehreren Ebenen in die Hände. Seit dem Beginn des Konflikts mit der Ukraine versucht Moskau ein Narrativ zu etablieren, dass die Auseinandersetzung als russischen Verteidigungskampf gegen den – von den Vereinigten Staaten angeführten – aggressiven Westen porträtiert. Die Amerikaner hätten in der Ukraine „Experimente“ durchgeführt, sagte Wladimir Putin Journalisten kurz vor der Krim-Annexion im März 2014 – und das Ergebnis sei nun das Chaos in der Ukraine. Wenn Russland auf der Krim nicht resolut eingeschritten wäre, so Putin, hätten dort demnächst Nato-Soldaten die Sicherheit des gesamten russischen Südens bedroht.

In Putins Narrativ sind die Europäer nur Vasallen

Weil diesem Narrativ die Evidenz fehlt, versuchte die russische Medienmaschinerie sie an den Haaren herbeizuziehen – siehe etwa die Aufregung um die US-Staatssekretärin Victoria Nuland, die im Dezember 2013 Sandwiches auf dem Maidan verteilte. Obwohl den Europäern im propagandistischen Narrativ Russlands eigentlich nur die Rolle eines Vasallen der Vereinigten Staaten zukommt, waren es schließlich Angela Merkel und François Hollande, die im Januar nach Moskau reisten. Überhaupt sind es die Europäer, die seit Beginn die Bemühungen der Krisendiplomatie anführen – und nicht die Amerikaner.

Eine unilaterale Entscheidung der Vereinigten Staaten für Waffenlieferungen an die Ukraine würde Russland daher endlich die lang ersehnte „smoking gun“ liefern, um die amerikanische Beteiligung zu beweisen. Im schlimmsten Fall könnte Russland dies sogar zum Anlass nehmen, die Existenz russischer Soldaten im Osten der Ukraine offiziell zuzugeben und zu legitimieren: Wenn russische „Landsleute“ (wie Putin in seiner weitreichenden Interpretation alle russischsprachigen Menschen nennt) durch amerikanische Waffen zu Schaden kommen, wäre das aus der Perspektive Moskaus ein valider Anlass, um Soldaten zu deren Schutz zu senden – eine völkisch basierte russische Interpretation des Prinzips der Schutzverantwortung.

Tatsächlich hält sich Obama vornehm zurück

Dies soll nicht heißen, dass Waffenlieferungen prinzipiell ausgeschlossen werden sollten. Die Vor- und Nachteile müssen sorgfältig abgewogen werden – im Rahmen einer sachlichen Debatte, die sich nicht entlang des simplifizierenden Narrativs amerikanischer Belligerenz versus europäischem Pazifismus bewegt. Vor allem jedoch muss es sich um eine gemeinsame transatlantische Entscheidung handeln. Denn wenn eines Moskau überrascht hat, dann ist dies die bisherige Geschlossenheit sowohl der Europäer untereinander als auch Europas mit den Vereinigten Staaten. Die transatlantische Einigkeit ist die stärkste Waffe des Westens im Umgang mit Russland.

Deutschland spielt eine entscheidende Rolle dabei, die Reihen geschlossen zu halten. Frank-Walter Steinmeier beschrieb Deutschland kürzlich als „Europas CFO“, also den „Chief Facilitating Officer“: einen Makler in Europa. Das ist eine etwas technische und holprige Art, den deutschen Führungsanspruch im Ukraine-Konflikt zu umschreiben. Aber Präsident Obama überlasst Merkel und Steinmeier nur zu gerne den Fahrersitz – aus amerikanischer Perspektive durchaus verständlich: Denn der Ukraine-Konflikt setzte zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt ein, nämlich gerade als die Vereinigten Staaten den militärischen Abzug aus Europa einleiteten, um sich Asien zuzuwenden. Für die Länder der „Östlichen Partnerschaft“ brachte die Regierung Obama nur höfliches Desinteresse auf – wenn dort überhaupt jemand etwas mit dem Begriff „Östliche Partnerschaft der EU“ anfangen konnte.

Berlin ist mit dem amerikanischen leadership from behind indes sehr einverstanden und wünscht sich lieber weniger als mehr amerikanische Beteiligung am Krisenmanagement, allein um die russische Paranoia über die Rolle der USA nicht noch weiter zu stärken. Jüngst kritisierte die Bundesregierung indirekt die angeblich unzuverlässigen Äußerungen der Nato über Russlands Truppenstärke in der Ostukraine als Störfeuer der eigenen diplomatischen Bemühungen.

Soft Power allein hilft gegen Putin nicht weiter

Angesichts der nur bedingt erfolgreichen europäischen Konfliktlösungsbemühungen sollte sich Deutschland jedoch selbstkritisch die Frage stellen, ob eine ausschließlich europäische Führungsrolle im Ukraine-Konflikt tatsächlich ausreichend ist. Ist Europa mit seinen auf soft power basierenden Instrumenten einem grundlegend machtpolitisch agierenden, revisionistischen Nachbarn wie Russland wirklich gewachsen? Nicht von ungefähr räsonierte der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, beim Besuch des stellvertretenden amerikanischen Außenministers Antony Blinken im März in Berlin, ob die Konfliktlösung nicht vielleicht erfolgreicher verlaufen wäre, wenn bei den Gesprächen mit Russland die Vereinigten Staaten von Anfang an stets mit am Tisch gesessen hätten.

Vor diesem Hintergrund sollten uns das Desinteresse und die Zurückhaltung der Regierung Obama möglicherweise mehr Sorgen bereiten als das scheinbar kriegerische Gebaren einiger amerikanischer Kongressabgeordneter. Denn ob eine robuste außenpolitische Linie, wie sie Senator John McCain und andere im Ukraine-Konflikt fordern, tatsächlich auch von einem republikanischen Präsidenten verfolgt würde, bleibt fraglich. Nicht nur die isolationistischen Tendenzen innerhalb der Tea-Party-Bewegung sprechen dagegen.

Ohne Frage: Es ist unsere europäische Nachbarschaftspolitik, die in der Ukraine schief gegangen ist. Wir müssen uns zuallererst selbst darum kümmern. Aber der Ukraine-Konflikt hat gezeigt, dass Europa nur bedingt in der Lage ist, für Sicherheit und Stabilität an den eigenen Grenzen zu sorgen. Auch wenn uns die Amerikaner manchmal wie vom Mars vorkommen – Putins Russland stammt ganz sicher von dort. Das ist die gemeinsame Herausforderung, vor der wir in Zukunft stehen werden.

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