Der Kunstraumpionier

Simon Vaut trifft Kulturunternehmer JOCHEN SANDIG im Kultur- und Veranstaltungszentrum Radialsystem V, Holzmarktstraße 33, 10243 Berlin

Jochen Sandig und ich treffen zeitgleich mit dem Fahrrad vor dem Radialsystem V ein. Wir betreten die denkmalgeschützte Maschinenhalle des ehemaligen Abwasserpumpwerks und nehmen uns einen Kaffee, der von einer gerade beendeten Veranstaltung übrig geblieben ist.

In einem lichtdurchfluteten Raum mit Blick auf die Spree beginnt der Kulturunternehmer zu erzählen, wie er nach Berlin kam. Aufgewachsen ist Sandig am Neckar, aber durch Besuche bei Verwandten kannte er Ost-Berlin schon seit 1985. Als in der Nacht des 9. Novembers 1989 seine in Berlin lebende Schwester am Telefon berichtete, „Wir haben gerade auf der Mauer getanzt“, zögerte er nicht. Schon 24 Stunden nach dem Mauerfall war er in Berlin. Die Straßen gen Osten waren frei, während sich Richtung Westen Trabbis Stoßstange an Stoßstange reihten.

Berlin war von Stund an Sandigs neue Heimat – und zwar eine, die er mitgestalten wollte: „Der befreite Osten Berlins war ein einzigartiger Möglichkeitsraum.“ Im Februar 1990 wurde er Mitgründer der Künstlerinitiative Tacheles, die eine Kaufhausruine an der Oranienburger Straße besetzte, um sie vor dem Abriss zu bewahren. Die Rettung gelang: Unter anderem am legendären Runden Tisch im Roten Rathaus gewannen die Aktivisten weitere Mitstreiter, um die Nutzung zu legalisieren und aus dem Haus ein Kunstzentrum zu machen. So wurde Sandig schon im Alter von 23 Jahren Chef von 40 Mitarbeitern. „Wir waren elektrisiert von Michail Gorbatschows Vision eines neuen Europäischen Hauses“, sagt er. „Das Haus Europa wollten wir im Tacheles leben – und hatten zeitweise Kreative und Künstler aus 42 Nationen unter dem Dach.“

Als größtes Kompliment empfand es Sandig, als der Dramatiker Heiner Müller das Tacheles als Symbol des neuen Berlin bezeichnete, das stärker noch als das Brandenburger Tor ein lebendiger Ort der Einigung der Stadt sei. „Die Eigentumsverhältnisse, die unklare Rechtslage, die Finanzen – das alles machte die Arbeit im Tacheles aber zu einem permanenten Tanz auf dem Vulkan.“ Deshalb wandte sich Sandig neuen Projekten zu und gründete gemeinsam mit seiner Ehefrau Sasha Waltz ein Tanzensemble, anschließend die Sophiensaele für freies Theater und Tanz. Von dort wechselten die beiden an die Schaubühne am Lehniner Platz.

Über eine App bestellen wir uns Sushi in einem nahe gelegenen Restaurant. Während wir warten, erläutert mir Jochen Sandig die Geschichte seiner heutigen Wirkungsstätte: Historisch war das Radialsystem V ein fortschrittliches Projekt, um die katastrophalen hygienischen Verhältnisse im Berlin des 19. Jahrhunderts einzudämmen. Der Berliner Arzt Rudolf Virchow setzte ein modernes Abwassersystem durch, das die Sterberate erheblich senkte. Er teilte die Stadt in zwölf Areale – zwölf Radialsysteme – ein, von denen aus die Abwässer ableitet wurden. Der Aufklärer prägte den Satz „Freiheit hat zwei Töchter: Gesundheit und Bildung.“

Im Jahr 2006 verwandelte der Raumpionier Sandig gemeinsam mit Dramaturg Folkert Uhde das Industriedenkmal Radialsystem V in einen Raum der Kunst und Ideen. Noch vor der offiziellen Eröffnung war der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Gast, um auswärtige Kulturpolitik im Dialog mit Künstlern und Kreativen weiterzuentwickeln.

Die Bundeskanzlerin kam ebenfalls vorbei und nahm vor Ort eine spontane Einladung an, sich eine Probe von Sasha Waltz’ Tanzgruppe anzuschauen. Das tun wir nun auch: Jochen Sandig führt mich in den Probenraum, wo Sasha Waltz mit Tänzern aus aller Welt die Choreografie „Creation“ einstudiert. Das Tanzensemble möchte Macht und Ohnmacht, Dominanz und Schwäche, Freiheit und Kontrolle, Gemeinschaft und Isolation ausdrücken, so Waltz.

Sandig und Waltz sind nicht nur privat ein Paar, sondern sie arbeiten auch eng miteinander und ergänzen sich dabei. „Sie ist eine fantastische, kreative Künstlerin, und meine Stärke ist es, Räume und Strukturen zu erfinden und neue Prozesse zu gestalten“, beschreibt Sandig das Duo.

Rückblende: Unseren Gesprächstermin hatten wir an einem Sonntag im April vereinbart, als ich das Paar bei der Berliner Kundgebung von #PulseofEurope traf. Was dort Anfang 2017 nur ein kleines Grüppchen von Europabegeisterten war, ist nun in mehr als 50 Städten präsent, wo Woche für Woche Begeisterung für Europa demonstriert wird. Jeden Sonntag um Punkt 14:00 Uhr wummert ein Pulsschlag aus den Lautsprechern. In einem Meer von blauen Fahnen mit goldenen Sternen sprechen dann eine Stunde lang Künstler, Intellektuelle und alle, die sich beim „offenen Mikrofon“ trauen, über europäische Werte, Erasmuserfahrungen oder die Vorzüge der Freizügigkeit. So auch diesmal. Sogar ein kleiner Junge traute sich und sagte ins Mikrofon: „Europa ist mein Zuhause.“ Ein Brite erzählte, dass er nach dem Brexit-Referendum die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat, weil er EU-Bürger bleiben möchte. Ein polnischer Student, der in Kiew gelebt hat, berichtete vom Euromaidan und von Gleichaltrigen, die mit der EU-Flagge in der Hand erschossen wurden. Alle, die zu #PulseofEurope kommen, eint eines: Sie sprechen positiv über die Europäische Union. Es geht um eine Haltung, nicht um eine konkrete Agenda. Und sie wollen für etwas eintreten und nicht gegen etwas demonstrieren.

Und dafür setzen sich auch Sasha Waltz und Jochen Sandig ein. Zum Abschluss der Kundgebung improvisierten sie eine Choreografie. Die Menschen hielten sich an den Händen. Um die Anweisungen der beiden herum bildete sich ein Kreis, der sich im Takt der Musik rhythmisch erweiterte und zusammenzog. Etwas Magisches entstand: Der Puls Europas wurde durch den gemeinsamen Tanz spürbar.

Der Fahrradbote bringt unser Sushi. Beim Essen erzählt Sandig: „Ich bin mit Leib und Seele Europäer, ein Kind des Élysée-Vertrages. In meiner Heimat Esslingen war Französisch erste Fremdsprache, wir haben die deutsch-französische Freundschaft nicht verordnet bekommen, sondern mit Begeisterung gelebt.“ Emmanuel Macron und Martin Schulz, so hofft er, könnten die französisch-deutsche Achse und Europa neu beleben. „Ich hätte nie gedacht, dass Europa so auf der Kippe steht. Wir wollen politische Haltung zeigen. Und das tun – aufgeschreckt durch Trump, Brexit, Front National und AfD – zum Glück immer mehr Künstler.“

Die Schnittstelle Kunst und Politik ist für ihn vertrautes Terrain. Mit seinem Freund, dem Kreativunternehmer Tim Renner, hat Jochen Sandig im „Kreativpakt“ Frank-Walter Steinmeier beraten, das Potenzial der Kreativwirtschaft zu heben. Kann er sich wie Renner vorstellen, einmal um ein Mandat zu kandidieren? „Möglicherweise, aber zunächst einmal möchte ich, dass Politiker mehr Kontakt zu Künstlern suchen. Und dass Künstler sich politisch stärker einbringen.“

Wie der kleine Junge bei #PulseofEurope sagt nun auch Sandig: „Europa ist Heimat.“ Wenn er in der Welt unterwegs sei, fühle er sich als Europäer. Und als Berliner. Und in dieser Dualität sieht Sandig auch die Zukunft des Regierens. Sandig trauert um seinen einige Tage zuvor verstorbenen Freund Benjamin Barber, den Autor des einflussreichen Buches Wenn Bürgermeister die Welt regieren würden. Sandig unterstützt dessen Vision von einem Weltparlament der Bürgermeister. „Ein globales System aus Städtenetzwerken könnte die EU und die UNO ideal ergänzen.“

Keine schlechte Idee. Und mit der Erkundung von neuen Räumen und radialen Systemen kennt sich Sandig schließlich aus.

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