Der Atlantis-Effekt

Immer mehr Wähler entscheiden sich spät und aufgrund von Zufälligkeiten des Wahltages - diese Erkenntnis gilt im politischen Betrieb als gesichert. Tatsächlich aber besteht die Identifikation mit einer bestimmten Partei bei vielen Bürgern fort. Wahlen gewinnt, wer diese latenten Anhänger am besten remobilisiert - und vor allem erfolgreich im riesigen Meer der »verschwundenen Wähler« fischt

Keine Frage, Wahlen funktionieren heute anders als noch vor einigen Jahren. Die Balken der Veränderungen, die wir am Wahlabend sehen, zeugen davon. Kaum ein Wahlabend vergeht, an dem nicht an irgendeiner Stelle „das beste Ergebnis aller Zeiten“ oder, komplementär dazu, „ein historischer Tiefststand“ für eine Partei zu verzeichnen wäre – von der rückläufigen Wahlbeteiligung ganz zu schweigen. Der Anteil der Menschen, deren Wahlentscheidung bis spät in den Wahlkampf hinein, potenziell bis zum Wahltag selbst, zur Disposition steht, ist rasant gewachsen. In der Folge ist das Wahlverhalten stärker denn je situativ geprägt von den Zufälligkeiten des Wahltags. Man könnte auch sagen: Wer die aktuelle Befindlichkeit des (Wahl-)Tages trifft, gewinnt.

Alles fließt? Das dann doch nicht

So heißt es zumindest immer. Zweifellos steckt in allen skizzierten Tendenzen mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Die Volatilität von Wahlergebnissen, also die Unähnlichkeit zwischen zwei aufeinander folgenden Wahlen, hat deutlich zugenommen. Extreme sind zur Gewohnheit geworden. Die 23 Prozent der Zweitstimmen, die die SPD bei der Bundestagswahl 2009 erzielt hat, sind so gesehen eigentlich nichts Besonderes. Ebenso wenig wie die absolute Mehrheit, die die SPD 2011 in Hamburg geholt hat.

Letztlich hat jede etablierte Partei in jüngerer Vergangenheit solche Grenzerfahrungen gemacht. Die CDU in NRW. Die FDP im Saarland. Die Grünen in Baden-Württemberg. Die Linkspartei im Westen. Und selbst die noch jungen Piraten haben schon hohe Höhen und tiefe Tiefen durchlebt. Selbstverständlichkeiten des Wählerverhaltens gibt es kaum mehr. Die Demoskopen wissen ein Lied davon zu singen. „Alles fließt, sagt Heraklit“ war vor Jahren ein populärer Buchtitel – es könnte eine Beschreibung heutiger Wahlen sein.

Aber genau an dieser Stelle sollte man innehalten. „Alles“ fließt dann nämlich doch nicht. Es beginnt schon bei den „Spätentscheidern“. Was genau bedeutet es, wenn immer wieder von deren wachsender Zahl die Rede ist? Was meinen Menschen eigentlich, wenn sie sagen, sie hätten sich erst spät im Wahlkampf entschieden? Hier schwingt häufig ein Unterton mit, der sagt: Diese Wählerinnen und Wähler seien bis zum Wahltag, ja letztlich bis zur Wahlurne selbst, vollständig flexibel gewesen. Sie hätten praktisch überall landen können. Gestern bei der SPD, heute bei der Union, morgen bei den Piraten, übermorgen bei den Grünen.

Solche Muster gibt es. Aber sie sind noch immer äußerst selten. Deshalb sind dieser Lesart zwei Entwicklungen gegenüberzustellen. Schauen wir zuerst in die empirische Wahlsoziologie. Kern des „sozialpsychologischen Modells“ des Wählerverhaltens ist die Parteiidentifikation. Bei dieser „psychologischen Parteimitgliedschaft“ handelt es sich um eine langfristig stabile, affektiv fundierte Bindung von Menschen an eine Partei. Fußballfans wissen, wovon die Rede ist.

Eine solche Identifikation ist keinesfalls gleichzusetzen mit dem tatsächlichen Wahlverhalten einer Person, was auch in der hierzulande verwendeten Frageformulierung zum Ausdruck kommt: „Viele Menschen in Deutschland neigen längere Zeit einer bestimmten Partei zu, auch wenn sie ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu?“

Wenn es die eingangs skizzierte Heute-so-morgen-so-Mentalität moderner Wähler in großem Umfang gäbe, dann müssten solche Parteiidentifikationen vom Aussterben bedroht sein. Das ist aber nicht der Fall: Daten aus der German Longitudinal Election Study zur Bundestagswahl 2009 zeigen, dass rund zwei Drittel der Deutschen noch immer einer Partei zuneigen. Und dass die Identifikationen immer noch in starkem Maße das Wahlverhalten prägen. Das Gros der Identifikationen entfällt dabei auf die großen Volksparteien. Funktional gesehen sind sie ein „Trägheitsmoment“ im Elektorat und sorgen für eine gewisse Stabilität.

Mein zweites Beispiel bezieht sich auf Koalitionen. Auch hier scheint in jüngerer Vergangenheit zu gelten: everything goes. SPD-Alleinregierung in Hamburg. „Dänen-Ampel“ in Schleswig-Holstein. Rot-Rot in Brandenburg. Große Koalitionen in Teilen Ostdeutschlands. Hinzu kommen sowohl Rot-Grün als auch Grün-Rot. Und vereinzelt immer noch Schwarz-Gelb. Die „Bunte Republik Deutschland“ ist, jedenfalls was Koalitionen auf Länder-ebene betrifft, politische Realität.

Auf der Bundesebene gilt dies aber nicht – weder in der Realität und schon gar nicht in den Köpfen der Menschen. Fragt man diese Menschen nach Bewertungen verschiedener Koalitionsoptionen, so findet man – aller Farbenvielfalt auf der Länderebene zum Trotz – vor allem alt bekannte Muster: Rot-Grün war und ist ein geschätztes Koalitionsmodell, auch Schwarz-Gelb stand lange Zeit hoch im Kurs der Wähler. Alle anderen Modelle dagegen sind auch innerhalb der Lager nicht mehrheitsfähig, sondern würden zu Zerreißproben führen. Dafür spricht übrigens auch das jüngste Wahlergebnis in Niedersachsen, denn auch hier kam es ja letztlich nur zu einem lagerinternen „Bluttransfer“ von der CDU an die FDP.

Einzig die Große Koalition gesellt sich mitunter noch in den Reigen geschätzter Koalitionsmodelle – was man allerdings nicht überbewerten sollte: Anhänger von Parteien sehen grundsätzlich all jene Koalitionsmodelle (etwas) positiver, an denen „ihre“ Partei beteiligt ist. Und packt man nun zwei große Parteien (wie Union und SPD) in eine gemeinsame Koalition, so wird diese Option zwangsläufig hohe Zustimmung erfahren. Insgesamt gilt jedenfalls auch hier, dass die Welt der Wähler bei weitem nicht jenem „Flohzirkus“ entspricht, der uns zuweilen präsentiert und suggeriert wird.

Zwar kann niemand leugnen, dass es Veränderungen im wahlpolitischen Prozess gibt. Aber die Veränderungen im Elektorat, die nötig sind, um am Wahlabend so beträchtliche Ausschläge der bunten Balken zu produzieren, sind nicht allzu groß. Es muss sich nur ein recht kleiner Teil der Wählerschaft neu orientieren, um erhebliche Umschwünge hervorzurufen. Daraus zu schließen, dass es überhaupt keine Strukturen in Wählermärkten mehr gäbe, wäre ein klassischer Trugschluss. Manches fließt inzwischen, ja – aber bei weitem nicht alles.

It’s the Wahlbeteiligung, stupid!

Bei aller medialen Aufgeregtheit über das Ende der Volksparteien und das Aufkommen neuer Koalitionsoptionen bleibt eine Veränderung eher unterbelichtet, die wirklich große Beachtung verdient hätte – und in hohem Maße für die Veränderungen an Wahlabenden verantwortlich ist: Die Bereitschaft der Menschen, überhaupt ihre Stimme abzugeben, hat merklich nachgelassen – vor allem in bestimmten Schichten der Bevölkerung. Wir haben uns inzwischen an so niedrige Wahlbeteiligungsraten gewöhnt, dass mitunter sogar schon ein minimaler Anstieg auf 59 Prozent (wie zuletzt in Niedersachsen) als Erfolg verkündet wird.

Und man schaue sich einmal an, wie unterschiedlich die Wahlbeteiligung in verschiedenen Stadtteilen ausfällt! Aber an dieser Stelle, wo Aufgeregtheit wirklich angebracht wäre, sucht man sie vergebens. Vielleicht fehlt nur eine knackige Metapher? Wie wäre es mit dem „Atlantis-Effekt“ der verschwundenen Wähler? Übrigens wären diese Wähler für jede Partei, die sie findet, ein veritabler, gewinnbringender Schatz.

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