Den Euro retten und Europa zusammenhalten

Nach dem Abschied der Briten besteht die Europäische Union de facto nur noch aus der Eurozone. Wenn Europa insgesamt gestärkt werden soll, kommt es deshalb entscheidend auf die Reform der Eurozone an - mit mutigen Schritten über den Status quo hinaus

Als perfect storm bezeichnen die Amerikaner eine Situation, in der eine seltene Kombination von Ereignissen drastische Umbrüche bewirkt. Man muss schon die Augen fest vor der Realität verschließen, um die Zeichen unserer Zeit – vom Brexit-Referendum der Briten bis hin zum Aufstieg Donald Trumps – nicht zu erkennen. Die Augen vor notwendigen Veränderungen verschließen hingegen viele, die für die deutsche Europapolitik an erster Stelle verantwortlich sind. Ihre Devise lautet: Business as usual – abwarten und dann den kleinsten gemeinsamen Nenner ausloten; darauf pochen, einmal vereinbarte Vereinbarungen einzuhalten, auch wenn sie längst von der Wirklichkeit überholt wurden. Dies ist der Status quo deutscher Europapolitik.

Diese Strategie geht nicht mehr auf. Die aktuelle Situation erfordert Vorschläge, die über das scheinbar realpolitisch Machbare hinausgehen. Das heißt nicht, dass utopisch – im besten Sinne des Wortes – argumentiert werden muss. -Sondern es geht darum, die Rahmenbedingungen zu berücksichtigen (etwa die Tatsache, dass die europäischen Verträge nur schwer zu ändern sind) und eine „idealistische Realpolitik“ zu betreiben. Bei all ihren Gefahren bergen die Krisen Europas nämlich auch Chancen. Die Verhandlungen über die künftige Beziehung Großbritanniens zur EU machen den Weg frei für Reformen in der EU. Denn ohne Großbritannien besteht die Europäische Union, nur wenig übertrieben formuliert, aus der Eurozone. Das bedeutet zugleich: Die Zukunft der Europäischen Union hängt mehr denn je von der Eurozone ab. Deshalb ist eine Reform der Währungsunion von zentraler Bedeutung, um auch die gesamte EU zu stärken.

Die Finanz- und Eurokrise hat gezeigt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion dringend reformbedürftig ist. Der Hauptmechanismus, mit dem die Mitgliedsstaaten der EU früher zumindest zeitweise Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum stimulieren konnten – die Abwertung der eigenen Währung –, steht nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen müssen sie real abwerten – vor allem, indem sie die Lohnstückkosten senken. Aber selbst diese harten Maßnahmen konnten die zunehmende wirtschaftliche und soziale Divergenz in der Europäischen Union und besonders in der Eurozone nicht stoppen. So ist die italienische Volkswirtschaft, immerhin die drittgrößte der Währungsunion, in den vergangenen sechs Jahren um durchschnittlich etwa 0,3 Prozentpunkte pro Jahr geschrumpft; Deutschland hingegen ist im selben Zeitraum durchschnittlich um rund 1,9 Prozentpunkte gewachsen. Dies schlägt sich auch auf dem Arbeitsmarkt nieder: Während hierzulande immer neue Beschäftigungsrekorde verbucht werden, verharrt die Arbeitslosenquote in Italien und Frankreich immer noch bei etwa zehn Prozent (ganz zu schweigen von den Quoten in Griechenland und Spanien). Diese massiven Unterschiede bergen enorme Sprengkraft für die Währungsunion und hohe politische Risiken für den Zusammenhalt der Gemeinschaft.

Um diese Probleme zu überwinden, müssen einige der grundlegenden Prinzipien des Maastricht-Regimes infrage gestellt werden. Klar: Es ist wichtig, dass die vereinbarten Haushaltsregeln tatsächlich eingehalten werden. Aber wer auf die Einhaltung der Regeln pocht, behebt damit noch nicht die grundlegenden Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion. Woran es bislang mangelt, sind etwa länderübergreifende Ausgleichsmechanismen für Wachstum und Konvergenz in der Eurozone.

Neue Instrumente, demokratisch legitimiert

Hinzu kommt: Der Entscheidungsprozess in Europa ist ineffektiv und undemokratisch. Dass die nationalen Regierungen sich immer stärker auf zwischenstaatlicher Ebene abstimmen, ist längst zur Handlungsmaxime konservativer Europapolitik geworden. Diese Maxime ist aber nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems. Denn im Kontext nationaler Wahlen sind Rechtsbeugung und der Bruch europäischen Regeln vorbestimmt.

Das Ziel muss es sein, wirtschaftspolitische Steuerungsinstrumente für die Eurozone zu schaffen, um die Wirtschafts- und Währungsunion handlungsfähiger zu machen und die wirtschaftliche und soziale Divergenz zu stoppen und umzukehren. Diese neuen Instrumente müssen demokratisch legitimiert sein.

Wir schlagen deshalb vor, die wirtschaftspolitische Steuerung und demokratische Legitimität der Eurozone zu stärken. Dazu gehört ein Eurozonenbudget, das für mehr Flexibilität in der Wirtschaftspolitik sorgt. Als Grundstein für eine gemeinsame Fiskalpolitik ließe sich zunächst eine neue Haushaltslinie im EU-Budget einführen, indem die Mitglieder der Eurozone auf bisherige Zuweisungen verzichten. Dies ist bereits jetzt ohne Vertragsänderungen möglich. Auf dieser Basis könnte mittelfristig ein Eurozonenbudget in Höhe von rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone eingeführt werden. Es könnte aus einer konjunkturabhängigen Steuer finanziert werden und Ausgaben für Infrastrukturprojekte und Budgetzuweisungen an Mitgliedsstaaten vorsehen. Dieses Budget würde durch einen europäischen Finanzminister verwaltet, der durch einen Eurozonen-Ausschuss im Europäischen Parlament demokratisch legitimiert würde.

Für ein europäisches Kurzarbeitergeld

Um besser auf asymmetrische Schocks zu reagieren und die soziale Konvergenz zu stärken, wäre ein europäisches Kurzarbeitergeld ein geeignetes Mittel. Dies sollte vorzugsweise an soziale Mindeststandards geknüpft sein, um die soziale Dimension der EU zu stärken. Anders als eine europäische Arbeitslosenversicherung, die mit vielfältigen praktischen und politischen Problemen behaftet ist, stehen die Chancen für die Einführung eines europäischen Kurzarbeitergeldes besser.

Es gibt unterschiedliche Szenarien, in welche Richtung sich die Eurozone und die Europäische Union entwickeln könnten: Am wahrscheinlichsten ist das Szenario einer inkrementellen Veränderung im Rahmen der bestehenden Verträge. Auch hier gibt es Möglichkeiten, Fortschritte zu erzielen – auch wenn dieses Szenario die Gefahr birgt, nicht die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um der nächsten Krise vorzubeugen. Ein ambitionierteres Programm würde Elemente des ersten Szenarios aufgreifen, aber weitergehende Reformen umfassen, die landläufig unter der Überschrift „Fiskalunion“ diskutiert werden. Falls es Eurozone und EU nicht gelingt, das Wohlstandsversprechen einzulösen, wird das von linken wie rechten Akteuren geforderte Rückbauszenario zur echten Gefahr. Ein solches Szenario brachte zuletzt auch der Ökonom Joseph Stiglitz ins Spiel. Nur eine idealistische Realpolitik kann dieser Gefahr entgegenwirken.

Alexander Schellinger und Philipp Steinberg sind Autoren des Buches „Die Zukunft der Eurozone: Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten“, das soeben im Transcript Verlag erschienen ist. Es hat 222 Seiten und kostet 19,99 Euro.

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