Demut



1 Ob die Ideen der Sozialdemokratie wieder stabile gesellschaftliche Mehrheiten organisieren können, wird davon abhängen, ob es Sozialdemokraten gelingt, eine neue, eine glaubwürdige Erzählung vom besseren Leben zu entwickeln. Die Erzählung ist wichtiger als die Sammlung an guten Vorschlägen für Reformen der sozialen Sicherung, der Mitbestimmung oder für eine Erneuerung der Energiebasis unserer Volkswirtschaft. Eine Erzählung verbindet das Reich der Ideen mit dem Alltag der Menschen. Sie kann von allen nacherzählt werden. Auf dem Sportplatz, beim Elternabend und in der Schlange beim Bäcker.

Niemand dagegen kann Konzepte der Bürgerversicherung nacherzählen. Die Herleitung, warum mehr Mitbestimmung nötig ist oder welcher Reformen es bedarf, um eine neue Ordnung der Arbeitswelt herzustellen, entzieht sich dem Alltag der Menschen. Sie denken nicht in Paragrafen und Verboten. Sie haben Wünsche, Erwartungen und Vorstellungen vom besseren Leben.

Die Leistung der Übersetzung ist höllisch schwierig. Und wie die Geschichte der Grünen lehrt, braucht sie Jahre, möglicherweise Jahrzehnte. Die Sozialdemokratie hat es etwas leichter. Die Grünen mussten mit ihrer Erzählung bei Null beginnen. Viele Anhänger der Basisdemokratie in den achtziger Jahren studierten in den siebziger Jahren noch die Kommunistische Volkszeitung oder den Arbeiterkampf. Die Sozialdemokratie kann daran anknüpfen, dass die Grundwerte der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit verbreitete Zustimmung genießen. Sie waren etwas verschüttet worden – Sozialdemokraten hatten daran mitgewirkt. Aber nun, das Unheil vor Augen, das die Finanzkrise über die Welt gebracht hat, räumen die Menschen die Trümmer beiseite und es scheint ein bisschen so, als deute die Linksverschiebung, die sogar die FDP erfasst hat, auf eine Renaissance der Sozialdemokratie hin.

2 Aber: Nichts kommt von alleine. Eine politische Erzählung schreibt sich nicht im stillen Kämmerlein. Sie übersetzt sich auch nicht, wenn einer von uns als Redner das sozialdemokratische Lagerfeuer so anzuheizen versteht, dass wir uns alle gerne daran wärmen. Wie viele Heuchler sind da auch, die auf dem einen SPD-Parteitag „die Vorschläge unserer Kritiker“ verdammt haben, heute aber gestehen, man habe zu sehr dem Neoliberalismus gefröhnt. Ich empfehle allen, die so reden, es im übertragenen Sinne dem König Ödipus nachzutun, der, nachdem er in einem quälenden Prozess selbst erkannt hatte, dass er die Verantwortung für die Pest in Theben trug, sich die Augen mit den Fibeln seiner Mutter, Ehefrau und Mutter seiner Töchter ausstach, um als Blinder den Eingang in die Unterwelt zu finden.

Noch trügerischer als das Wärmen am Lagerfeuer wäre ein Versuch, die besseren Ideen zu Alltagsversprechen zu verbiegen. Der Versuch, „die Menschen in den Mittelpunkt von Politik zu stellen“, muss misslingen.

Wie kann Politik dann gelingen? Ich warne vor dem Glauben, die Partei müsse nur die bessere Werbeagentur, Berater oder sonstige Kommunikationsschwadroneure beschäftigen. Ich empfehle das Naheliegende: zu den Menschen gehen statt in den Gremien Politik verwalten, ihre Sorgen und Nöte sehr genau notieren, ihre Wünsche und Hoffnungen aufzeichnen und von ihren Reden lernen. Die Menschen erwarten kein Heil von einer Bürgerversicherung. Sie erwarten, dass sie im Krankheitsfall jede Art der möglichen Hilfe bekommen, ohne dass sie als Beitragszahler überlastet werden. Sie erwarten sichere Arbeit, anständig bezahlt, vor Kündigung und Willkür geschützt und zeitlich begrenzt, auf der sie ein gutes und gelingendes Leben aufbauen können. Sie erwarten Respekt, Achtung und vor allem: Sie wollen die öffentliche Sache nicht an den Börsen dieser Welt gehandelt sehen. Sie greifen schon nach der öffentlichen Sache. Die Menschen, dank digitaler Vernetzung neuerdings Schwarm genannt, erobern sich wieder einmal die Republik zurück, die sie in schlechten Händen glauben. Sie kämpfen gegen Castoren, Bahnhöfe und demnächst sicher auch gegen Windparks und Solaräcker. Sie selbst stellen die Politik in den Mittelpunkt ihres Lebens.

3 Hier ist der Kern dessen zu besichtigen, was das Reich der Ideen mit dem Alltag der Menschen verbindet: Weil die Parteien keine großen Erzählungen mehr anbieten, verwandeln sich die Menschen selbst in eine solche. Stuttgart 21 war gestern, Castoren-Proteste kommen wieder. Und die Sozialdemokratie vergisst bisweilen gerne, dass sich am 3. April 2004 Hunderttausende protestierend aufmachten, um der damaligen rot-grünen Koalition noch eine letzte Chance zu geben. Manche Sozialdemokraten glauben bis heute, man habe damals nur die falsche Werbeagentur beauftragt. Ich glaube ganz fest, dass die Klage über die Schwierigkeiten von Reformkommunikation in die Irre führt. Eine neue Erzählung baut auf der Demut vor jenen Menschen auf, denen zu dienen man die Absicht hat. Und sie muss getragen sein von der Überzeugung, dass die Sozialdemokratie bei Strafe ihres Untergangs die Menschen, denen sie den Fortschritt verspricht, nie mehr täuschen darf. «

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