Bloß raus aus dem Morast des alten Denkens!

Der ökonomische Diskurs in Deutschland wird seit langem geprägt von Scheinalternativen nach dem Muster "Markt oder Staat" und "Angebots- oder Nachfragepolitik". Falsche Gegensätze wie diese blockieren positive Entwicklungen - höchste Zeit, dass wir sie hinter uns lassen

Im Koalitionsvertrag taucht das Wort „Ordnungspolitik“ nicht auf. Doch mit der Suchfunktion des Computers lässt sich der Kern des Koalitionsvertrages nicht erfassen. Er hat sehr wohl einen ordnungspolitischen Leitfaden. Einige verstehen Ordnungspolitik mehr oder weniger als Rückzug des Staates. Ich halte das für zu kurz gesprungen. Eine moderne Ordnungspolitik heißt nicht automatisch, dass sich der Staat zurückzieht, sondern dass er sich auf Bereiche konzentriert, wo der Markt ihn braucht beziehungsweise wo der Markt versagt.

Es geht dabei um Komplementaritäten von Staat und Markt, wobei „Staat“ im 21. Jahrhundert natürlich mehr bedeutet als der Nationalstaat. Der Leitgedanke des Koalitionsvertrages ist keine Ordnungspolitik, die staatliche Interventionen rundherum ablehnt, aber auch kein wahlloser Interventionismus. Vielmehr folgt er den Gedanken von Alfred Müller-Armack, der falsche Alternativen von „rein liberaler Marktwirtschaft“ auf der einen Seite und „Wirtschaftslenkung“ auf der anderen Seite überwinden wollte. Zeitweise wurde diese Suche „Dritter Weg“ genannt. Müller-Armacks Herangehensweise ist auch heute noch ein guter Ansatz.

Was muss ein Wirtschaftsmodell im 21. Jahrhundert leisten? Unbestritten ist, dass eine Marktwirtschaft das beste System ist, um die optimale Allokation von Ressourcen zu erzielen. Aber eben nur, wenn der Markt begrenzt wird. Zum einen muss man verhindern, dass der Markt die Gesellschaft immer stärker in Arm und Reich spaltet; zum anderen müssen wir einen Weg finden, wie ein auf Wachstum getrimmtes System auf unserer Erde mit begrenzten Ressourcen auf Dauer funktionieren kann. Aus einer freien Marktwirtschaft (wieder) eine soziale und ökologische zu machen – kann es ein lohnenderes Projekt geben? Ein progressiveres Projekt? Ein sozialdemokratischeres Projekt?

Im Regierungsalltag muss es gelingen, mit kluger Politik die drei Adjektive marktwirtschaftlich, sozial und ökologisch miteinander vereinbar zu machen, und dies für ein Land in der Eurozone, mitten im europäischen Binnenmarkt und der globalisierten Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Ein praktisches Beispiel dafür ist die Energiewende: Man muss die Belange der Wirtschaft (Sicherung von Arbeitsplätzen in der energieintensiven Industrie) zusammenbringen mit den sozialen Anforderungen (bezahlbarer Strom auch für sozial Schwache) und denen der Umwelt (Bekämpfung des globalen Klimawandels).

Die Dinge im Kopf neu kombinieren

Neues Denken entsteht dort, wo es Menschen gelingt, einzelne Dinge hin- und herzudrehen, sie im Kopf neu zu kombinieren und zusammenzufügen, während andere im Morast eines alten Denkens steckenbleiben. Neues Denken bedeutet, dass wir falsche Alternativen überwinden und Blockaden auflösen müssen. Um welche falschen Alternativen handelt es sich?

1. Markt oder Staat: Dieser ideologisch aufgeladene Grundsatzstreit hat wenig mit der Realität moderner Volkswirtschaften zu tun. Das alte Denken – Markt oder Staat – sollte überwunden werden. Markt und Staat sind keine Substitute, sondern Komplemente. Die Rolle des Staates geht über die Wahrung von Eigentumsrechten hinaus, es geht um das Setzen von Anreizen, um einen staatlichen Ordnungsrahmen, um die richtige Kombination von Markt und Staat.

2. Makropolitik versus Mikropolitik: In Deutschland kommt die makroökonomische Debatte im Vergleich zu angelsächsischen Ländern recht kurz. Dabei werden wir unsere Ziele Wachstum und Beschäftigung nur erreichen können, wenn wir gute makroökonomische Rahmenbedingungen der Geld- und Fiskalpolitik sicherstellen. Ohne die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) wäre die Spekulation auf ein Auseinanderbrechen des Euroraums weitergegangen, zugleich brauchen wir auch Mikropolitik, vor allem eine intelligente Forschungs-, Innovations- und Bildungspolitik. Wir müssen Makro- und Mikro-politik als zwei Seiten der gleichen Medaille von Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit sehen.

3. Nachfragepolitik versus Angebotspolitik: Auch hier geht es um ein Sowohl-als-auch, nicht um ein Entweder-oder. Gerade die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Binnennachfrage dank der robusten Situation am Arbeitsmarkt und der damit verbundenen Einkommensstabilität eine wachsende Stütze der konjunkturellen Entwicklung war. Aber auch gute Rahmenbedingungen der Investitions- und Innovationspolitik bleiben richtig.

4. Wachstumspolitik versus Konsolidierungspolitik: Die Erfahrungen gerade in einigen europäischen Ländern zeigen, dass wir beides brauchen: Eine nachhaltige Haushaltspolitik, die den Stabilitätserfordernissen einer Währungsunion gerecht wird, ist nicht zuletzt aus Gründen der Generationengerechtigkeit wichtig. Jeder Euro, der für Zinszahlungen ausgegeben werden muss, fehlt für Zukunftsinvestitionen. Zugleich sind Strukturreformen vonnöten, um die Wachstumspotenziale der Länder zu stärken.

5. Flexibilität versus Sicherheit: Unternehmen brauchen atmende Arbeitsmärkte und flexible Arbeitszeitmodelle, um Kunden punktgenau zu bedienen, aber auch, um mit der Konjunktur atmen zu können. Das haben längst auch die Betriebsräte und Gewerkschaften erkannt. Unter der Überschrift der Flexibilität ist die Segmentierung des Arbeitsmarktes in den vergangenen Jahren jedoch weiter fortgeschritten und hat teilweise zu Missbrauch geführt, zum Beispiel bei der Leiharbeit oder bei Werkverträgen. Dies ist mit gesellschaftlichen Kosten verbunden, etwa wenn die Familienplanung angesichts unsicherer Beschäftigungsverhältnisse verschoben oder schlicht ausgesetzt wird. Wir brauchen ein neues Modell von „Flexicurity“, das die Flexibilität auf tariflich gesicherte Standards aufsetzt und auch Beschäftigten und ihren Familien Planungssicherheit gibt.

Wie können Märkte besser funktionieren?

Wir kommen nur weiter, wenn wir die beschriebenen Blockaden lösen. Das gilt besonders für die falsche Alternative „Markt versus Staat“. Es geht darum, staatliches Handeln und einen staatlichen Ordnungsrahmen klug mit dem Marktgeschehen zu kombinieren. Eine Marktwirtschaft ohne klaren staatlichen Ordnungsrahmen – etwa für die Finanzmärkte oder hinsichtlich ökologischer und sozialer Standards – hat den Namen soziale Marktwirtschaft nicht verdient.

Über das Wesen der Marktwirtschaft wird nicht erst jetzt neu nachgedacht. Die letzte Debatte dieser Art fand in den späten neunziger und frühen nuller Jahren statt, geführt von Mitte-links-Regierungen wie denen von Gerhard Schröder in Deutschland und Tony Blair in Großbritannien. Stark vereinfacht ausgedrückt ging es darum, die soziale Marktwirtschaft mit mehr Markt zu versehen – und zwar nicht im Konflikt mit sozialen Ideen, wie in den achtziger Jahren in Großbritannien oder den USA, sondern im Einklang damit. Mit mehr Markt und weniger Staat sollten Wohlstand erzeugt und die Arbeitslosigkeit verringert werden. Vielfach gelang dies auch, wenn auch mit unbeabsichtigten Schattenseiten (und teilweise selbstzerfleischenden politischen Auseinandersetzungen).

Heute geht es um eine Überholung der sozialen Marktwirtschaft in eine andere Richtung. Dabei soll nicht „sozial“ den „Markt“ zurückdrängen, im Gegenteil. Es geht darum, wie Märkte besser funktionieren können, und darum, dabei eine ökologische Komponente hinzuzufügen, die gleichzeitig eine globale Komponente ist.

Wir müssen uns von der falschen Dichotomie von Staat und Markt befreien. Ohne Zweifel gibt es Situationen, in denen Planung, Interventionismus oder die direkte Beteiligung des Staates im Wirtschaftsleben überhandgenommen haben. Der Staat muss sich dann zurückziehen. So war das zum Beispiel am Anfang des Transformationsprozesses der ehemaligen Ostblockländer oder zu Beginn des Liberalisierungsprozesses in Brasilien in den achtziger oder in Indien in den neunziger Jahren. Diese Situation ist jedoch für die meisten Länder heute untypisch. Manche Länder oder Sektoren brauchen weniger Staat, andere mehr. Und weniger Staat bedeutet nicht automatisch mehr Marktwirtschaft, es kann auch mehr „Machtwirtschaft“ bedeuten, in der private Kartelle sich einen Staat oder eine Gesellschaft zur Beute nehmen. Oft wird weder mehr noch weniger Staat benötigt – sondern ein besserer Staat.

Was ist die Aufgabe eines Staates in einer modernen Wirtschaft? Hier hilft ein Blick zurück in die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Anfangs stand richtigerweise der Rückzug des Staates aus direktem Besitz oder direkten Eingriffen in die Preisbildung im Vordergrund, aber mit der Zeit wurde deutlich, dass die Minimierung der Rolle des Staates zu simplistisch war. Das Herausbilden einer funktionierenden Marktwirtschaft erforderte nicht nur den Rückzug des Staates aus bestimmten Bereichen, sondern ebenso die Entwicklung bestimmter staatlicher Aktivitäten.

Um vernünftig zu funktionieren, braucht der Privatsektor unterstützende öffentliche Institutionen und Regeln. Diese umfassen unter anderem ein intaktes Rechtssystem, um private Verträge durchsetzen zu können, den Schutz von physischem und geistigem Eigentum, Wettbewerbsregeln, soziale Sicherungssysteme zur Schaffung gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie ganz allgemein Regeln, um mit Externalitäten, unter anderen im Umweltbereich, und Fehlanreizen, zum Beispiel im Finanzsektor, umgehen zu können. Sie umfassen auch die Herstellung von Chancengleichheit, eben nicht nur unter Unternehmen, sondern auch unter Individuen, zum Beispiel bei der Bereitstellung von Bildung.

Weiterhin hat sich herausgestellt, dass die Qualität der Institutionen eine kritische Dimension der Transformation war. Staatliche Institutionen mit gleichen Aufgaben – beispielsweise Steuern einzuziehen oder den Bankensektor zu beaufsichtigen – konnten sehr unterschiedlich effizient ein, im Wesentlichen abhängig von zwei Faktoren: den technischen Möglichkeiten, abhängig von verfügbarer Information und Humankapital, und Anreizen. In der Summe stellte sich heraus, dass es bei der Transformation darum ging, die Rolle des Staates neu zu definieren – statt ihn einfach zu minimieren.

Kein einzelner Staat kann Google regulieren

Das Funktionieren von Marktinstitutionen hängt aber nicht nur von Gesetzen ab; Kulturwandel kann nicht per Gesetz verordnet werden. Es hängt auch von Faktoren ab wie Werten, Einstellungen oder Gewohnheiten. Ungeschriebene Gesetze, beispielsweise im Hinblick darauf, was ein moralisch akzeptables Verhalten eines Menschen in einem Unternehmen oder in einer öffentlichen Verwaltung darstellt, können ebenso wichtig sein wie geschriebene Gesetze.

Mit „Staat“ ist in diesem Kontext der Staat im weitesten Sinne gemeint: nicht nur der Nationalstaat, sondern auch kommunale und regionale öffentliche Strukturen, oder auch die Staatengemeinschaft oder supranationale Institutionen wie die Europäische Union. Gewiss hat die Gestaltungskraft des Nationalstaates abgenommen. Kein Nationalstaat kann Google oder Amazon regulieren. Die Erderwärmung und dadurch ausgelöste Unwetter und Stürme machen nicht an Landesgrenzen halt. Durch Krieg oder durch Hoffnung auf ein besseres Leben ausgelöste Migration hat schon immer staatliche Strukturen überwunden. Der Nationalstaat wird dennoch auch in Europa auf absehbare Zeit nicht verschwinden. Aber er wird an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn die politischen Gestalter weiterhin so tun, als könnten sie diese Probleme innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens lösen.

Trotz einiger berechtigter Kritik an Detailregulierungen wie dem berühmten offenen Olivenölkännchen, das verboten werden sollte: Die europäische Integration bleibt die einzige Antwort auf die Globalisierung und globale Fragen. Wer meint, vermeintlich bessere Alternativen für Deutschland in einer Renationalisierung aufzeigen zu können, führt die Bürger Europas in die Irre. Der Kern der Integration ist die Eurozone, mit einem eigenen Parlament, einem eigenen Budget, gespeist aus eigenen Einnahmequellen. Mit Deutschland und Frankreich in einer besonderen Verantwortung für die Integration.

Für eine funktionierende soziale und ökologische Marktwirtschaft ist die Chancengleichheit unter Individuen genauso fundamental wie der Wettbewerb unter Unternehmen – Chancengleichheit in einem weiten Sinne definiert, als die Unabhängigkeit wirtschaftlicher Erfolgschancen von sozialer Herkunft, Geschlecht, Geburtsort, Religion, ethnischer Provenienz oder sexueller Orientierung. Dies erfordert ein erstklassiges und allgemein zugängliches Bildungssystem. Chancengleichheit ist dabei nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern auch des Wachstumspotenzials und damit des Wohlstands. Wir können es uns gerade als alternde Gesellschaft immer weniger leisten, einen Teil unserer qualifizierten Bevölkerung vom Erwerbsleben, von bestimmten Berufen oder Führungsebenen auszuschließen.

Wir wollen mit unserer Wirtschaftspolitik, um Willy Brandt zu zitieren, „immer auf der Höhe der Zeit“ sein. Wir wollen Chancen schaffen für viele, nicht Privilegien für wenige. Das geht nur, wenn wir Debatten unideologisch, pragmatisch und in einem europäischen Geiste führen. Das bedeutet, die soziale und ökologische Marktwirtschaft im europäischen Binnenmarkt und in der globalisierten Weltwirtschaft neu zu definieren. Damit leisten wir einen Beitrag für eine offene und liberale Gesellschaft – wobei „liberal“ in der ursprünglichen, freiheitlichen Bedeutung des Wortes zu verstehen ist und weit mehr umfasst als die Freiheit von Steuerzahlungen.

Neue Angebote für die arbeitende Mitte

Bereits in ihren ersten Monaten hat die Große Koalition zentrale Projekte wie das Rentenpaket und den Mindestlohn rasch angepackt. Manch einer fragt, warum sich diese gute Regierungsarbeit nicht in besseren Umfragewerten für die SPD niederschlägt. Aber war dies eigentlich zu erwarten? Für das Wahlprogramm der SPD haben rund 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler gestimmt. Das Abarbeiten von zentralen Projekten zeigt, dass Sozialdemokraten Wort halten. Aber um aus dem Ghetto der 25 Prozent auszubrechen, brauchen wir neue und erweiterte Angebote für die arbeitende Mitte. Nur so können wir Sozialdemokraten weiter den Anspruch erheben, irgendwann einmal wieder den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin zu stellen.

Ohne Zweifel gibt es Arbeit zu Niedrigstlöhnen auch in Deutschland, ebenso den Missbrauch von Werkverträgen. Aber die Mehrheit der fast 42 Millionen Erwerbstätigen ist davon nicht betroffen, sie arbeiten jeden Tag unter anständigen Bedingungen für gute Löhne und finden, dass unser Land sehr robust durch die vergangenen Jahre gekommen ist. Die neue ökologische und soziale Marktwirtschaft ist die übergeordnete ordnungspolitische Idee, die wir in nächster Zeit mit konkreten Angeboten für die arbeitende Mitte füllen müssen: in der Steuerpolitik, in der Familienpolitik, bei der Anpassung der Gesundheits- und Pflegepolitik an die rapide alternde Gesellschaft, in der Europapolitik und in der Einwanderungspolitik.

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