Bildung, Bildung, Bildung!

Zu Dirk Meinunger, "Selbstmord durch Aufstieg?", Berliner Republik 1/2017

Nach der Lektüre des Textes von Dirk Meinunger musste ich erst einmal tief durchatmen. Der Autor vermischt darin richtige Einsichten mit ungerechten Vorwürfen und schlägt einen aggressiven Grundton gegen die Haltung und die (Bildungs-) Politik der SPD in den vergangenen fünfzig Jahren an.

Die SPD habe, so sein Hauptvorwurf, in einem blinden Akademisierungswahn ein Kernklientel ihrer Politik verloren und sei nun selbst schuld, wenn sie von immer weniger Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaftsmitgliedern gewählt werde – unter denen sich wohlgemerkt inzwischen auch sehr viele Akademiker befinden. Wer kulturell und habituell nur auf die Akademisierungsquote schiele, verliere die Wertschätzung für die vielen potenziellen SPD-Wählerinnen und Wähler ohne Studienabschluss aus dem Blick.

Es ist verwunderlich, dass dieser Vorwurf ausgerechnet jetzt kommt: In einer Zeit, in der die Digitalisierung alles verändert, in der Bildung und Weiterbildung die zentralen Ressourcen sind, um mit der technologischen Veränderungsgeschwindigkeit mitzuhalten. Aber auch in einer Zeit, in der der demografische Wandel zu einem beunruhigenden Fachkräftemangel führt und in der es eine ungeahnte Spaltung (nicht nur) unserer Gesellschaft gibt und die Frage im Raum steht, was die Politik angesichts neuer Unsicherheiten sowie einer (Vermögens-)Ungleichheit tun kann, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu gewährleisten.

Ich folge Meinunger darin, dass es falsch wäre, sich nur auf die Akademisierungsquote zu fokussieren. Äußerst unbefriedigend ist jedoch, dass Meinunger seinen starken Vorwurf nicht untermauert. Wer in der SPD sollte denn für die These vom Selbstmord durch Aufstieg eintreten? Etwa der bisherige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der die SPD in den letzten Jahren immer wieder ermahnte, die „kleinen Leute“ nicht aus dem Blick zu verlieren? Oder etwa Martin Schulz, der weder Abitur gemacht noch studiert hat und zudem einen Ansatz von Gerechtigkeit vertritt, der sich nicht auf die Aufstiegsgerechtigkeit reduzieren lässt? Oder vielleicht Andrea Nahles, der mit der Einführung des Mindestlohns eine historische Leistung für alle Geringverdiener gelungen ist und die unermüdlich an der Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung in eine qualifikationsorientierte Arbeitsversicherung und dem Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung arbeitet?

Meinungers Vorwurf wird auch nicht überzeugender, wenn ich mir das Wahlprogramm der SPD aus dem Jahr 2013 anschaue. Dort wird Bildung sehr umfassend als Schlüssel zu einem selbstbestimmten und freien Leben begriffen. Unser Ziel war und ist die gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Hochschule – und nicht nur für die Hochschule. „Wir wollen, dass alle Menschen von Anfang an gleiche Chancen haben, ihr Potenzial zu entwickeln“, lautet ein zentraler Satz des Programms. In unserem Land, in dem noch immer vor allem das Elternhaus über den Bildungs- und Berufserfolg entscheidet, ist eine Politik für mehr Chancengleichheit dringend notwendig. Außerdem widersprechen die im Programm geforderte Fachkräfteoffensive für Kita-Erzieherinnen sowie der Ausbau von Ganztagsschulen und die Stärkung der dualen Ausbildung der These vom Akademisierungswahn. Und selbst bei ihrer Forderung nach einer Erhöhung des Bafög geht es der SPD immer auch um mehr Bafög für Schüler. In einer Welt, in der die Ungleichheit zunimmt, ist Bildung eine der zentralen Grundvoraussetzungen für den Aufstieg.

In der SPD kann man auch ohne Abitur Parteivorsitzender werden. Ich finde das großartig. Wie das Streiten für die Demokratie und das Einstehen für den solidarischen Sozialstaat, gehört auch das Aufstiegsversprechen zum Kern der politischen Agenda der SPD. Daraus jedoch eine Abwertung nicht-akademischer Abschlüsse zu konstruieren oder zu behaupten, dass die SPD all jenen, die ihre Aufstiegschancen nicht nutzen, die „Schuld an der eigenen Situation“ zuweist, ist nicht überzeugend. Genauso wenig plausibel ist es, auf dieser Grundlage die geschwächte Wählerbindung erklären zu wollen – vor allem, wenn der Vorwurf damit angereichert wird, dass es der Partei stattdessen „um die unbedingte Gleichstellung jeglicher denkbarer Minderheiten“ ginge. Vorsicht, Herr Kollege, hier wird das Wasser trüb. Richtig ist allerdings, dass es heutzutage immer schwieriger wird, große Wählerblöcke (ich scheue das Wort Milieus, weil es diese in unserer heterogenen Gesellschaft praktisch nicht mehr gibt) dauerhaft an eine Partei zu binden.

Das gilt aber beileibe nicht nur für die Sozialdemokratie. Angesichts der höchsten Vermögensungleichheit innerhalb der Eurozone und der äußerst geringen sozialen Mobilität (in kaum einem anderen Land beeinflusst die soziale Herkunft den beruflichen Erfolg so stark wie in Deutschland) sind Chancengleichheit und Aufstiegsorientierung über Bildung heute wichtiger denn je. Denn in einer Gesellschaft, in der gravierende Unterschiede bei Vermögen und Einkommen bestehen und in der es gleichzeitig nur geringe Aussichten gibt, an dieser Verteilungen etwas zu ändern, nehmen Polarisierung und Spaltung fast zwangsläufig zu. Das gilt gerade auch für die Mitte der Gesellschaft, in der die Abstiegsängste in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen haben – und mit ihnen die Bereitschaft, Parteien zu wählen, die nicht mit beiden Beinen auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen.

Bildung ist aber nicht nur zur Überwindung von Ungleichheit und Chancenlosigkeit eine zentrale Ressource, sondern auch für den Erhalt unserer offenen Gesellschaft, des kulturellen Pluralismus und der Demokratie. Jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass die Grundlagen für Fähigkeiten und Ansichten, aber auch für Selbstwertgefühl, Motivation, Disziplin, Durchsetzungsvermögen und soziales Verhalten besonders in den ersten Lebensjahren gelegt werden. Deswegen sind noch deutlich mehr Investitionen im Bereich der frühkindlichen Bildung notwendig. Doch ausgerechnet dort gibt Deutschland im OECD-Vergleich zu wenig Geld aus. Das muss sich ändern.

Darüber hinaus spielt das Elternhaus eine wichtige Rolle in der Bildung. Leider gibt es Familien, in denen Kinder nicht gefördert werden, in denen abends nicht vorgelesen und in denen den Kindern keine Leistungsorientierung vorgelebt wird. Kinder, die so aufwachsen, stehen vor unglaublich hohen Hürden. Sie brauchen Sprungbretter in Form von guten, qualitativ hochwertigen Angeboten in Kitas und Ganztagsschulen. Dann klappt es auch mit dem Studium oder dem Beruf. Erhalten sie diese Chancen nicht, dann stellt sich im Laufe des Lebens fast zwangsläufig das Gefühl ein, niemals eine faire Chance bekommen zu haben.

Was das für diese Menschen, aber auch für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, für die Stabilität unserer Demokratie heißt, brauche ich hier wohl nicht weiter auszuführen. Wichtig ist, dass wir für faire Chancen sorgen – und dabei nimmt die Bildung einen zentralen Stellenwert ein.

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