Beleidigt vom Wandel der Wirklichkeit



1 „Morgen ist nicht die Fortsetzung von gestern“, befand der große Liberale Ralf Dahrendorf 1983 in seinem Abgesang auf das sozialdemokratische Zeitalter. Keine Frage: Die Beschleunigung der Geschichte im vergangenen Vierteljahrhundert hat die stolze Traditionspartei SPD so massiv unter Druck gesetzt, dass Fortschritt und Sozialdemokratie längst keine natürlichen Verbündeten mehr sind. Die Krisenursachen sind hauptsächlich externe Faktoren, die die SPD bislang zu wenig wahrgenommen hat. Fakt ist: Die arbeiterliche Gesellschaft als soziostrukturelle Basis und identitätsstiftendes Milieu der SPD zerfällt beziehungsweise wandelt sich in Richtung einer ausdifferenzierten Wissensgesellschaft mit immer geringerer Bindekraft der Großorganisationen für Mitglieder, Wähler und ganze Alterskohorten.

Der gesellschaftliche Wandel ist kein exklusiv sozialdemokratisches Problem: Erodierende Milieus, sinkende Mitgliederzahlen und schrumpfende Stimmanteile plagen auch andere Parteien. Zugleich entstehen neue sozial-kulturelle Gruppierungen, die parteipolitisch (noch) ungebunden sind. Dennoch tut sich die Partei Willy Brandts besonders schwer, diese neuen Realitäten anzuerkennen. Wo der Referenzpunkt noch immer die ehemalige parteipolitische Supermacht ist, müssen sich Gegenwart und Zukunft in einem multipolaren Parteiensystem zwangsläufig trist ausnehmen. Eine Folge dieser fatalen politisch-mentalen Disposition ist die Verschleppung einer grundlegenden Parteireform. Der wütende Aufschrei auf allen Ebenen der Partei, nachdem Sigmar Gabriel seine ebenso moderaten wie überfälligen Vorschläge zum Rückbau der überdehnten Parteistrukturen vorgestellt hatte, spricht Bände. Nach wie vor reagieren die Genossen auf den Wandel von Wählerschaft und Parteiensystem eher beleidigt als nachdenklich.

Für eine erfolgreiche Strategiebildung ist Realitätsverweigerung freilich Gift. Entsprechend verunsichert stolpert die SPD durch die Kulissen des Fünf-Parteien-Systems: In den vergangenen 15 Jahren endeten nicht weniger als zwei Bundestagswahlen und 15 Landtagswahlen mit einer Mehrheit der linken Parteienfamilie, aber ohne eine Regierungsmehrheit für die SPD. Ebenso unbeholfen wie zur Linkspartei gestaltet sich das Verhältnis zur Union: Obwohl die Große Koalition zwischen 2005 und 2009 in vieler Hinsicht erfolgreich war, schaffte es die Parteiführung nie, die eigene Anhängerschaft für diese Konstellation zu erwärmen. Auch die neue Rolle als Juniorpartner der Grünen in Baden-Württemberg bereitet der stolzen Volkspartei massive Ego-Probleme.

2 Die SPD muss die neuen Realitäten des Fünf-Parteien-Systems nicht nur anerkennen, sondern zu nutzen wissen: Erstens gilt es, den machtpolitischen Phantom-Schmerz zu überwinden und den eigenen Status als parteipolitische Groß- aber nicht mehr Supermacht zu akzeptieren, um wieder eine überzeugende Körpersprache zu entwickeln. Zweitens muss die pragmatische Erkenntnis wachsen, dass nicht nur die SPD erfolgreich sozialdemokratische Politik macht. Retrospektive Scharmützel über die Urheberschaft erfolgreicher Reformpolitik – ob in der Familien-, Arbeitsmarkt- oder Energiepolitik – versprechen keinen politischen Erfolg. Stattdessen sollte sich die Partei darauf konzentrieren, die Deutungshoheit über zukünftige Interpretationen von Aufstieg und Emanzipation zu erlangen. Drittens: Die SPD muss eine „lernende Partei“ werden, was auch die Korrektur begangener Fehler einschließt, ohne dass sich die Partei darüber in Flügel- und Machtkämpfen selbst demontiert. Dieser Prozess der Selbstvergewisserung ist notwendig, um wieder ein kohärentes politisches Narrativ entwickeln zu können. Dazu gehört auch die endgültige Abkehr von der rigorosen Sachzwang-Politik der Ära Schröder/Müntefering.

Wichtig ist ferner die Erkenntnis, dass einzelne Policy-Papiere und elaborierte Konzepte wie der „Deutschlandplan“ oder die „Bürgerversicherung“ zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellen, um hearts and minds der Wähler zu gewinnen. Spätestens seit dem Energiekonsens sind alle großen Fachkonflikte diesseits des Populismus nivelliert. Ob Kinderbetreuung, Elektromobilität oder Atomkraft – die Parteien trennen lediglich Detailfragen. Eine umfassende Profilierung ist auf diesen Feldern kaum noch möglich. Gefragt ist vielmehr ein Deutungsangebot, was diese Gesellschaft aus sozialdemokratischer Perspektive zusammenhalten soll. Die SPD muss wieder lernen, auch jenseits von Wahlkämpfen und Programmprozessen ihre „große Erzählung“ zu kommunizieren. Dabei sollte der Fokus auf dem Leitbild der inklusiven Arbeitsgesellschaft liegen, auf den gesellschaftlichen Integrations- und Aufstiegsperspektiven durch Arbeit. Mehr denn je ist die Universalisierung der Arbeit das wesentliche gesellschaftliche Strukturelement, gleichzeitig sind die Arbeitsmärkte und Arbeitswelten zu hochdynamischen Gesellschaftsbereichen geworden – mobiler, internationaler, weiblicher, flexibler, komplexer. Längst ist der männliche, gewerkschaftlich organisierte Industriefacharbeiter im „Normalarbeitsverhältnis“ eine, wenn auch wichtige, Minderheit. Höchste Zeit also, dass die SPD ihre Kernkompetenz als Arbeitspartei ausbaut und mit einem zeitgemäßen Fortschritts- und Wachstumsbegriff verbindet.

3 Die SPD wird sich in den kommenden Jahren darum bemühen müssen, als Führungspartei in einem multipolaren Parteiensystem dies- und jenseits des linken Lagers mehrheits- und regierungsfähig zu sein. Wie das gehen kann, zeigt der Blick nach Ostdeutschland: Gerade in den ostdeutschen Flächenstaaten sind die großen Parteien nie Volksparteien im westdeutschen Sinne gewesen. Ein etabliertes Fünf-Parteien-System mit deutlich nivellierten Mehrheitsverhältnissen und ein funktionsfähiges linkes Lager bescheren der Ost-SPD mehr strategische Optionen als den West-Genossen. In der Konsequenz regiert die SPD in Ostdeutschland in vier der fünf Landesregierungen – sowohl mit der CDU als auch mit der Linkspartei. In Brandenburg hat die SPD bereits in drei verschiedenen Koalitionen regiert und stellt seit nunmehr 20 Jahren den Ministerpräsidenten. «

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