Ankommen in der Ära der Ökologie



1 Die Ursachen für die sozialdemokratische Misere sind zweifellos vielfältig; im Folgenden werde ich mich weitgehend auf den – allerdings zentralen – Aspekt des erkennbaren Fremdelns der Sozialdemokratie in der eingetretenen Ära der Ökologie beschränken. Dieses Fremdeln ist nicht selbstverständlich. Die Einsicht, dass die Lebensqualität nicht nur an Lohnhöhe und Arbeitszeit, sondern auch an den Umweltbedingungen hängt, steht bereits am Ursprung der Arbeiterbewegung: Man lese die schauerlichen Schilderungen von Manchester in Friedrich Engels’ Lage der arbeitenden Klassen in England von 1845! Zwar gibt es heute in deutschen Städten keine stinkenden und verseuchten Slums mehr; dennoch trifft die These Ulrich Becks, dass moderne Umweltschäden alle Menschen in gleicher Weise träfen („Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“), in dieser Pauschalität nicht zu: Man denke allein an die Belästigung durch Verkehrs- und Fluglärm! In der amerikanischen Öko-Szene ist die Environmental justice-Bewegung der wichtigste neue Trend der vergangenen zwei Jahrzehnte. Woraus sich nicht zuletzt ergibt: Umweltschutz ist keineswegs automatisch gleichbedeutend mit Gerechtigkeit! Letzteres hat man sich viel zu lange eingebildet; selbst die Grünen haben über die Synthese von Umwelt- und Sozialpolitik erstaunlich wenig nachgedacht. „Generationengerechtigkeit“ ist ein vager Begriff, der von Fragen der aktuellen sozialen Gerechtigkeit ablenken kann. Wenn man sich dessen bewusst ist, erkennt man, wie viel hier für die SPD zu tun wäre!

2 Die SPD muss ihren eigenen, spezifisch sozialdemokratischen Ansatz finden, um in der Ära der Ökologie zu bestehen. Dabei sollten Sozialdemokraten vor allem die Irrtümer der Öko-Fundamentalisten vermeiden. Diese neigen in aller Welt dazu, Bürgerinitiativen, die für die Qualität ihrer eigenen Lebenswelt kämpfen, als egoistische „NIMBY“-Bewegungen („Not in my backyard“) abzuqualifizieren: Allein das selbstlose Engagement für die Natur kennzeichne das echte Umweltbewusstsein. Aber diese Ausgrenzung ist ganz unrealistisch und unpolitisch; sie kappt die vitalen Wurzeln des Umwelt-Aktivismus. Überall in der Welt ist die Heimatliebe eine der stärksten Triebkräfte der Bürgerinitiativen für die Umwelt; es ist verkehrt, dieses Motiv pauschal als reaktionär abzustempeln. Schützenswert ist nicht nur das Habitat der Fledermäuse, sondern auch das der Menschen. Lokale Initiativen allein führen allerdings oft zur bloßen Problemverschiebung. Erst durch Wechselwirkungen zwischen Bürgerprotest und Politik entsteht eine „Umweltbewegung“, die diesen Namen verdient.

Öko-Fundamentalisten lieben traditionell das ethisch getönte Schattenboxen „Ökologie contra Ökonomie“. Von daher steckt vielen Industriellen und auch Gewerkschaftlern noch der Pawlowsche Reflex im Blut, bei „öko“ erst einmal in Abwehrstellung zu gehen, selbst dann, wenn ein Unternehmen von Umweltauflagen profitiert. Eine der wichtigsten Aufgaben besteht darin, diesen Reflex abzubauen und im allgemeinen Bewusstsein zu verankern, in welchem Maße die ökologische Umsteuerung der Wirtschaft Arbeitsplätze zu schaffen vermag und die Konkurrenzfähigkeit stärkt.

Nicht nur unter sozial-, sondern auch unter umweltpolitischem Aspekt ist es falsch, wenn Sozialdemokraten die Themen Mutter und Familie der CDU/CSU überlassen. Hans Jonas, einer der weisesten Vordenker des environmentalism, erblickte in der Verantwortung der Mutter für das Kind den in der menschlichen Natur angelegten vitalen Archetyp umweltbewussten Verhaltens. Dass in der reichen Bundesrepublik 40 Prozent der alleinerziehenden Mütter von der Sozialhilfe leben, ist einer der beschämendsten Skandale. Viele Maßnahmen des Umweltschutzes – von der „Stadt der kurzen Wege“ bis hin zum Schutz vor Radioaktivität – finden in den Interessen der Mütter eine sehr viel sinnhaftere, menschlich bewegende Basis als in „Klimaschutz“ und „Nachhaltigkeit“: Begriffe, die allzu leicht zu bloßen Plastikwörtern verkommen.

Ein weiterer Punkt: In jüngster Zeit ertönt unter Sozialdemokraten allenthalben die Klage über neue Wellen von „Populismus“, gegen Europa und gegen Zuwanderung; kaum etwas anderes hat die SPD so aufgewühlt wie die Kontroverse um Thilo Sarrazin. Hier ist es jedoch geraten, über das leidige Pro und Contra hinauszukommen. Vorsicht mit dem Etikett „Populismus“ für jeglichen Bürgerprotest, der einem spontan nicht behagt! Unter sozial- und ebenso unter umweltpolitischem Aspekt gibt es gute Gründe dafür, den Nationalstaat handlungsfähig zu erhalten und auch seine Grenzkontrollen zu schätzen. Selbst dann, wenn das EU-Parlament mehr Rechte bekommt, wird die demokratische Kontrolle oberhalb der staatlichen Ebene schon durch die pure Unübersichtlichkeit zur Farce. Alle Erfahrung zeigt eindeutig, dass eine effektive Sozial- und Umweltpolitik ohne einen handlungsfähigen Staat keine Chance hat.

„Multikulti“ ist mit Vorliebe das Credo derer, die der Konkurrenz von Zuwanderern auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht ausgesetzt sind, sondern die kunterbunte Szenerie vorwiegend aus der Konsumentenperspektive – der der exotischen Restaurants und Musik-Events – wahrnehmen. Das ist an und für sich nichts Schlechtes, sollte jedoch nicht mit dieser Vehemenz als moralisch überlegene Position ausgegeben werden. Das aus der Rückschau rätselhafte Faktum, dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung 2002 die Kapitaltransaktionssteuer abschaffte – erst nach dem Crash von 2008 dann der Aufschrei über die „Heuschrecken“, denen man doch selbst den Weg ins Land geöffnet hatte! – führt vor Augen, in welchem Maße der Drang nach Grenzöffnung zum gedankenlosen Tick geworden war.

3 Was den Sozialdemokraten bevorsteht, hängt – mehr noch als von vielen Einzelpunkten – nicht zuletzt davon ab, ob sie zu einem in die Ära der Ökologie passenden Politikstil imstande sind. Reinhard Ueberhorst hat in der von ihm 1979/80 geleiteten Enquete-Kommission des Bundestages „Zukünftige Kernenergiepolitik“, die noch aus heutiger Sicht vorbildlich gearbeitet hat, die Forderung aufgestellt, auf einem neuen, noch unübersichtlichen Terrain von der „positionellen“ zur „diskursiven“ Politik überzugehen, mehrere Optionen durchzuspielen und erst einmal zu überlegen, auf welche Weise man hier zu vernünftigen Entscheidungen gelangt. Dieses Postulat steht nach wie vor unerfüllt im Raum. Wenn heutzutage das so genannte Umweltbewusstsein auf bloße Bekenntnisse „Klimaschutz gut – Atomkraft schlecht“ schrumpft, ohne diverse Handlungsoptionen und Zielkonflikte kreativ zu durchdenken, besitzt diese Stereotypie eine verteufelte Ähnlichkeit mit dem politisch korrekten Geblöke der Schafe in Orwells Farm der Tiere: „Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht.“ Vor kurzem stöhnte eine erfahrene Umwelt-Aktivistin über die gähnende Langeweile in gewissen Ethik-Kommissionen, die immer wieder von vorne anfingen und ewig den gleichen laberigen Öko-Singsang wiederholten, statt konkret zupackend die Fülle politischer Erfahrungen aufzuarbeiten. Gerade Sozialdemokraten sollten sich selbst aufs Neue in einer spannenden und spannungsvollen Geschichte begreifen, um einen Impetus zum wirkungsvollen politischen Handeln zu erlangen. «

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