Agenda für den Aufstieg

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist nicht nur für die Armen ein Problem, sondern für uns alle. Deshalb fordern manche staatlich subventionierte Gleichheit, andere verlangen größere Leistungsbereitschaft des Einzelnen. Doch solche ideologisch aufgeheizten Debatten helfen nicht weiter. Stattdessen brauchen wir eine massive Kraftanstrengung der gesamten Gesellschaft

„This isn’t about class warfare, this is about the nation’s welfare”, sagte der amerikanische Präsident Barack Obama über die zunehmende soziale Spaltung des Landes. Deutschland ist nicht Amerika. Aber auch wir stehen vor großen sozialen Herausforderungen. Die gute Nachricht: Wir können sie lösen.

Fast jedes dritte Kind in Deutschland, so der aktuelle Bundesbildungsbericht, wächst in sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolagen auf. Die Aussichten dieser Kinder auf gute Bildung und beruflichen Aufstieg sind stark eingeschränkt, weil die soziale Stellung der Eltern nach wie vor großen Einfluss darauf hat, welche soziale Stellung ihr Nachwuchs im weiteren Lebensverlauf erreicht. In kaum einem anderen industrialisierten Land ist die Chancenungleichheit so stark ausgeprägt wie in der Bundesrepublik. Sie verbaut vielen Kindern und Jugendlichen die Zukunft. Und das hat dramatische Folgen.

Wer wird eigentlich die Arbeit machen?

Wer zu den unteren Schichten der Gesellschaft gehört, hat nicht nur geringe Möglichkeiten aufzusteigen. Immer häufiger droht sogar der weitere Abstieg. Eine neue Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zeigt, dass sich die Arbeitsmarktchancen von Beschäftigten ohne berufsqualifizierenden Abschluss in den vergangenen dreißig Jahren verschlechtert haben. Sie mussten häufiger den Arbeitgeber wechseln, sie wurden öfter arbeitslos, und auch die Reallöhne im unteren Bereich gingen deutlich zurück. Offensichtlich häufen sich bei sozial Benachteiligten negative Entwicklungen, oder sie verstärken sich sogar wechselseitig. Dies trägt dazu bei, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet.

Die OECD hat diese Entwicklung erst Ende 2011 erneut kritisiert. Der Organisation zufolge ist die Einkommensungleichheit seit 1990 in Deutschland erheblich stärker angewachsen als in den meisten anderen OECD-Ländern. Ein Grund dafür ist, dass die Einkommen der sehr Wohlhabenden besonders stark gestiegen sind. Der Sozialbericht 2011 und der neueste Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigen jedoch auch deutlich: Immer weniger Menschen können der Armut entkommen.

Wenn es immer weniger Jugendliche gibt, die in der Schule erfolgreich sind und weiterführende Ausbildungen absolvieren, ist dies auch ein Problem für die Wirtschaft. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit stehen aufgrund des demografischen Wandels bereits im Jahr 2025 rund 6,5 Millionen erwerbsfähige Personen weniger zur Verfügung als heute – das sind mehr als Hessen Einwohner hat. Selbst wenn es gelänge, eine große Zahl geeigneter Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, ließe sich die Lücke damit allein nicht mehr schließen. Umso wichtiger ist es, das vorhandene Arbeitskräftepotenzial in Deutschland besser auszuschöpfen. Das heißt, gerade auch den vielen benachteiligten Jugendlichen eine Chance zu geben, sie also auszubilden, einzustellen, zu fördern und weiter zu qualifizieren.

Folglich ist es nicht nur ein ethisches Gebot der Gerechtigkeit, die Aufstiegschancen der benachteiligten Menschen zu verbessern. Es liegt auch im Interesse des sozialen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Deutschland. Deshalb müssen alle gesellschaftlichen Kräfte bei dieser großen Aufgabe mitwirken.

Das Bildungssystem ist ein wichtiger Ort in der Gesellschaft, an dem die ungleichen Startchancen ausgeglichen werden sollten. Doch gerade dieses Politikfeld ist ein Schlachtfeld geworden. Die politischen Lager führen einen Stellungskrieg, und durch permanente Scharmützel zwischen den und innerhalb der 16 Kleinstaaten entstehen immer neue Nebenkriegsschauplätze. Inzwischen ist die Lage ebenso unübersichtlich wie zermürbend. Dabei sind die Auswege längst bekannt.

Soziale Investitionen rechnen sich

Wir brauchen eine flächendeckende Versorgung mit kostengünstigen beziehungsweise kostenfreien Krippen und Kindergärten, in denen die Kinder umfassend gefördert werden. Und wir brauchen mehr und bessere Angebote für die Ganztagsbetreuung in den Schulen. Dann können Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern ihre Bildungsdefizite zumindest teilweise aufholen. Zudem benötigen wir durchlässigere Schulstrukturen, damit alle Kinder ihre gesamte Schulzeit hindurch sehen und erleben, dass sich Anstrengung auszahlt und die nächsthöhere Stufe erklommen werden kann. Viele Länder schaffen deshalb die Hauptschule ab. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Nun sollten die neu geschaffenen Schulen aufgewertet werden.

Ferner brauchen wir mehr Lehrer und mehr Unterstützungsangebote für die Eltern. Eine große Allensbach-Umfrage im Auftrag der Vodafone Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele Eltern eine stärkere staatliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung und -erziehung jenseits der Schule wünschen.

Das alles kostet viel Geld. Es handelt sich hierbei jedoch nicht nur um Ausgaben, sondern um Investitionen: Das Geld, das der Staat heute für Bildung ausgibt, spart er morgen beim Arbeitslosengeld, bei Sozialwohnungen und bei der Kriminalitätsbekämpfung doppelt wieder ein. Auch führen höhere Investitionen in die Bildung zu höheren Erträgen in der Wirtschaft und somit zu zusätzlichen Steuereinnahmen. Die Unternehmensberatung McKinsey hat es für die USA konkret

ausgerechnet: Wenn die Amerikaner in den vergangenen Jahren bei den Bildungsleistungen zu den führenden Ländern wie Finnland und Südkorea aufgeholt hätten, wäre ihr Bruttoinlandsprodukt mindestens 1,3 Billionen Dollar höher. Für Deutschland hat die Bertelsmann Stiftung ähnliche Berechnungen durchführen lassen, die ebenfalls beeindruckende Zahlen ergaben: Die langfristigen Erträge einer Bildungsreform würden sich über die Lebensspanne der heute geborenen Kinder hinweg auf rund 2,8 Billionen Euro summieren.

Das Bauwerk der Zukunft ist die Brücke

Gerade wegen solcher Effekte sollte nicht nur der Staat für größere Chancengleichheit sorgen, sondern auch die Wirtschaft. Unternehmen müssen Motoren für soziale Mobilität in Deutschland werden und die Menschen in den entscheidenden drei Lebensphasen beim Aufstieg unterstützen.

Schulzeit: Viele Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen strengen sich in der Schule nicht an, weil sie glauben, ohnehin keine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Häufig fehlen auch die beruflichen Vorbilder in der Familie. An dieser Stelle kommen die Unternehmen ins Spiel. Sie sollten die Schüler viel öfter in Betriebspraktika holen, damit sie noch besser lernen, worauf es im Arbeitsleben ankommt. Zugleich sollten sie ihre Mitarbeiter in die Schulen ausschwärmen lassen, damit sie je eine Schulstunde lang ihren Beruf vorstellen – von der Anästhesistin bis zum Zerspahnungsmechaniker.

Übergang von der Schule in den Beruf: Jugendliche mit schlechten oder gar keinen Schulabschlüssen finden nur schwer Arbeit. Unternehmen sollten sich dazu durchringen, auch diese Jugendlichen einzustellen, auszubilden und gerade im ersten Lehrjahr durch zusätzliche Schulungen und Coachings zu unterstützen. Das deutsche System der dualen Berufsausbildung gilt in Amerika als vorbildlich. Wir sollten uns nicht darauf ausruhen, sondern die duale Berufsausbildung um eine Kultur der zweiten Chance erweitern. Dabei können wir umgekehrt von den Amerikanern lernen.

Im Berufsalltag: Ohne Weiterbildung geht es nicht mehr. Laut der Umfrage „Weiterbildung 2011“ des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sind sich dieser Tatsache fast alle Unternehmen bewusst. Aber noch nicht einmal 40 Prozent von ihnen wollen in diesen Bereich stärker investieren. Das muss sich ändern. Die Betriebe sollten lebenslanges Lernen nicht nur fordern, sondern auch fördern. Klar ist: Unternehmen sind nicht in erster Linie dazu da, gesellschaftliche Schieflagen auszugleichen. Klar ist aber auch: Unternehmen engagieren sich teilweise schon heute auf den genannten Gebieten. Darauf sollten sie aufbauen und auch große Investitionen nicht scheuen. So würden nicht nur die Jugendlichen gewinnen, sondern auch die Unternehmen selbst.

Schließlich sollten auch wir, die Bürger, mit unseren Möglichkeiten einen direkten Beitrag zur Lösung des Gesamtproblems leisten. Drei Beispiele für erfolgreiche Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements: Der Verein „Rock Your Life“ qualifiziert Studierende als Coaches, die ehrenamtlich jeweils einen Hauptschüler auf dem Weg in den Beruf begleiten. „Teach First“ bringt herausragende Hochschulabsolventen an Brennpunkt-Schulen, wo sie zwei Jahre lang in Vollzeit für ein kleines Gehalt als zusätzliche Lehrkräfte arbeiten. Und der Verein „Big Brothers Big Sisters“ vermittelt Berufstätige und Senioren als ehrenamtliche Mentoren für Kinder und Jugendliche.

Alle drei Initiativen haben eines gemeinsam: Sie bauen Brücken zwischen denjenigen, die auf der Sonnenseite der Gesellschaft geboren wurden und jenen, die weniger Glück hatten. Über diese Brücken erhalten die sozial benachteiligten Kinder genau jene individuelle Förderung, die sie so dringend brauchen, die der Staat aber niemals finanzieren könnte. Zugleich trägt jede dieser Brücken dazu bei, unsere Gesellschaft im Inneren ein bisschen mehr zusammenzuhalten.

Wenn es also so etwas wie eine Agenda 2013 gibt, dann ist es wohl die, dass Staat, Wirtschaft und Bürger(gesellschaft) gemeinsam alles daran setzen sollten, die Aufstiegschancen der sozial Benachteiligten zu verbessern. Denn so sehr wir uns von den Vereinigten Staaten unterscheiden mögen – auch für uns gilt, was Präsident Obama für die Amerikaner auf den Punkt brachte: „We’re all in this together – it’s not a few of us doing well and then the rest of us hoping that we get lucky, but rather, everybody, as a team, moving this country forward.“

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