»Passive bystanders« im Weltgeschehen?

Völlig desinteressiert an internationalen Entwicklungen sind die Deutschen keineswegs - aber alles andere als tatendurstig. In den vergangenen 20 Jahren ist die öffentliche Zustimmung zu außenpolitischem Engagement unseres Landes ständig gesunken. Woran liegt das? Und wie lässt sich Außenpolitik wieder besser in der Gesellschaft verankern?

D ie Zeiten von Fürst Metternich und Otto von Bismarck, als Zigarre rauchende Staatenlenker in Hinterzimmern über das Schicksal ihrer Nationen verhandelten, sind lange vorbei. In modernen liberalen Demokratien benötigt Außenpolitik eine breite gesellschaftliche Absicherung. Interessen von Staaten müssen im öffentlichen politischen Diskurs immer wieder neu bestimmt werden. In Deutschland hat die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs das außenpolitische Denken und Handeln über Jahrzehnte geprägt. Leitbilder wie „Zivilmacht Deutschland“ oder „Kultur der Zurückhaltung“ stehen stellvertretend für die deutsche außenpolitische Kultur der Nachkriegszeit.

Mit der „Münchner Rede“ von Bundespräsident Joachim Gauck und der von Außenminister Frank-Walter Steinmeier angestoßenen Neubewertung deutscher Außenpolitik („Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“) haben führende Politiker 25 Jahre nach dem Fall der Mauer die Frage nach dem außenpolitischen Selbstverständnis Deutschlands neu gestellt. Ihr Grundtenor: Das Gewicht Deutschlands in der internationalen Politik sei erheblich gewachsen, und deswegen müsse Deutschland auch mehr Verantwortung übernehmen.

»Wir haben genug eigene Probleme«, sagen viele

Doch haben die Deutschen überhaupt Interesse an außenpolitischen Fragen? Sind sie wirklich bereit für mehr Engagement in der Außenpolitik? Die aktuelle repräsentative Studie Einmischen oder zurückhalten der Körber-Stiftung gibt Aufschluss über die Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik.

Die gute Nachricht vorweg: Das Interesse an außenpolitischen Themen ist groß. So gaben 68 Prozent der Befragten an, sich sehr stark (12 Prozent) oder stark (56 Prozent) für Außenpolitik zu interessieren. Dabei steigt das Interesse mit Alter und Bildungsgrad. Dieser hohe Wert ist überraschend und steht im Gegensatz zu dem, was diejenigen, die Außenpolitik betreiben, täglich erleben. Er erklärt sich vermutlich auch dadurch, dass die Umfrage Ende April und Anfang Mai durchgeführt wurde, als die Ukraine-Krise die Nachrichten dominierte.

Gleichwohl ist mit dem hohen Interesse keine Bereitschaft zu einem stärkeren außenpolitischem Engagement unseres Landes verbunden. Nur 37 Prozent befürworten ein stärkeres deutsches Engagement, 60 Prozent votieren weiterhin für Zurückhaltung, was sie überwiegend (73 Prozent) damit begründen, dass Deutschland genug eigene Probleme habe beziehungsweise dies aus historischen Gründen nicht angemessen sei (50 Prozent). Verglichen mit einer Umfrage aus dem Jahr 1994 zeigt sich, dass sich diese Position diametral verkehrt hat: Damals, zur Zeit des Bosnien-Krieges, sprachen sich nur 37 Prozent der Deutschen für Zurückhaltung aus, 62 Prozent plädierten dafür, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Doch je konkreter in der aktuellen Umfrage nach Aktionsfeldern gefragt wurde, umso stärker zeigte sich, dass die Distanz nicht pauschal einem stärkeren deutschen Engagement gilt, sondern sich nach Zielen und Aktionsfeldern deutlich unterscheidet: humanitäre Hilfe, diplomatische Verhandlungen, Projekte zur Stärkung der Zivilgesellschaft, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Ausbildung von Polizei- und Sicherheitskräften sind die Bereiche, in denen mehr als drei Viertel der Deutschen verstärktes Engagement sehr wohl unterstützen würden. Anders sieht es bei der Haltung gegenüber militärischen Einsätzen aus: Ein stärkeres Engagement lehnen 82 Prozent der Befragten ab; fragt man aber konkreter nach Einsatzfeldern, so würden der Schutz Europas, humanitäre Hilfe und friedenserhaltende Maßnahmen durchaus Zustimmung finden.

93 Prozent der Befragten sehen den weltweiten Schutz der Menschenrechte als sehr wichtige (66 Prozent) oder eher wichtige (27 Prozent) Priorität deutscher Außenpolitik an – dieser Wert hat seit 1994 stark zugelegt. Die Sicherung von „Frieden in der Welt“ stellt mit 51 Prozent das wichtigste Ziel deutscher Außenpolitik dar, vor Sicherheit (23 Prozent), Freiheit (15 Prozent) und Wohlstand (8 Prozent). Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich folglich eine werteorientierte Außenpolitik, wirtschaftliche Interessen sind weniger relevant.

Trotz des bereits bestehenden sehr hohen Kooperationsniveaus möchten die Deutschen noch enger mit den beiden größten Nachbarstaaten Frankreich (79 Prozent) und Polen (71 Prozent) zusammenarbeiten. Unabhängig von Alter, Bildungsgrad und Parteipräferenz sind 61 Prozent der Ansicht, dass eine stärkere Zusammenarbeit mit China wünschenswert ist. Das Land liegt damit zwar vor den Vereinigten Staaten, die gelegentlich zu lesende Interpretation, die Deutschen wollten lieber mit China als mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten, trifft hingegen nicht zu, da keine Rangfolge der Kooperationsländer abgefragt wurde. Der Nato-Partner Türkei ist das einzige Land dieser Liste, mit dem nach Meinung der Befragten weniger zusammengearbeitet werden sollte als bisher.

Während die Parteipräferenz offenbar nur begrenzten Einfluss auf die Einstellungen der Deutschen zur Außenpolitik hat, ergab eine Aufschlüsselung der Umfrage nach Altersgruppen deutliche Unterschiede: Je jünger die Befragten sind, umso größer ist die Bereitschaft zu stärkerem internationalen Engagement. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen ist das Interesse an Außenpolitik zwar nicht besonders stark ausgeprägt, aber sie scheint weniger historisch zu argumentieren und betont besonders den Schutz der Menschenrechte. Zu deren Verteidigung wäre sie notfalls auch bereit, auf ein Mandat der Vereinten Nationen zu verzichten.

Die durchwachsene Bilanz der Auslandseinsätze

Warum hat die Bereitschaft der Deutschen, sich außenpolitisch zu engagieren, in den vergangenen 20 Jahren so deutlich abgenommen? Eine mögliche Erklärung ist, dass sich Deutschland seit 1994 gerade auch militärisch stärker als je zuvor engagiert hat und die Deutschen der Auffassung sind, dass ein noch weitergehendes Engagement kaum zu vertreten ist. Hinzu kommt, dass die Bilanz dieser Auslandseinsätze durchwachsen ist. Die teils eklatante Diskrepanz zwischen den deklarierten Zielen und dem tatsächlich Erreichten hat zu einer nachhaltigen Verunsicherung in der Gesellschaft geführt, was den Wert solcher Missionen angeht. Vielleicht dämpft aber auch die Erfahrung der Eurokrise, in der Deutschland finanzielle Risiken in schwindelerregender Höhe eingegangen ist, die Bereitschaft der Menschen, noch mehr internationale Verantwortung zu übernehmen.

Welche Folgen ergeben sich daraus für die zukünftige deutsche Außenpolitik? Deutschland ist zwar eine europäische Großmacht, im globalen Maßstab aber viel zu klein, um sich überall engagieren zu können. Die Politik muss zwangsläufig Prioritäten setzen. In einem Prozess wie „Review 2014“ sollte daher auch diskutiert werden, welche Interessen Deutschland hat und welche Instrumente beziehungsweise Ressourcen für ihre Durchsetzung zur Verfügung stehen sollten. Sind diese Interessen definiert, sollte Deutschland bereit sein, eine Führungsrolle zu übernehmen – mit allen damit verbundenen Risiken. Immer „nur“ einen Beitrag zu leisten, ist am Ende zu wenig. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die Deutschen außenpolitisches Engagement durchaus unterstützen, wenn es um konkrete und greifbare Ziele geht. Selbst für den Einsatz der Bundeswehr gibt es erstaunlich viel Unterstützung, sobald ein konkretes Einsatzszenario genannt wird.

Die hohen Erwartungen anderer Staaten an Deutschland sind Folge unseres gestiegenen politischen und wirtschaftlichen Gewichts. Sie können aber im Einzelfall kein handlungsleitender Maßstab deutscher Außenpolitik sein. Deutschland muss seine eigenen Interessen definieren und entsprechend handeln. In jedem Fall aber gibt es in der Bevölkerung einen großen Rückhalt für eine engere Zusammenarbeit mit Frankreich und Polen, sei es bilateral oder im Rahmen des Weimarer Dreiecks.

Außenpolitik ist mehr als Krisendiplomatie

Ein Programm zur besseren Verankerung von Außenpolitik in der Gesellschaft sollte folgende Punkte umfassen:

Erstens sollte offen über deutsche Ziele und Interessen diskutiert werden. Dies kann beispielsweise anlässlich einer außenpolitischen Grundsatzrede des Regierungschefs geschehen, wie es der amerikanische Präsident Barack Obama im Mai 2014 in der Militärakademie West Point vorgemacht hat. Einer solchen Grundsatzrede sollte sich eine jährliche außenpolitische Regierungserklärung anschließen, die im Parlament debattiert wird. Auch die Veröffentlichung einer regelmäßig zu aktualisierenden nationalen Sicherheitsstrategie würde die öffentliche Debatte über Außenpolitik befördern. Um das Interesse der jungen Generation an außenpolitischen Themen zu stärken, sollten solche Reden und Dokumente schon in der Schule behandelt werden.

Zweitens muss noch besser kommuniziert werden, dass die Übernahme größerer internationaler Verantwortung nicht gleichbedeutend ist mit der Entsendung von Soldaten. Der Einsatz der Armee ist nicht die Regel, sondern immer ein absoluter Ausnahmefall in der Außenpolitik. Der außenpolitische Alltag besteht aus Kommunikation, Diplomatie und dem Einsatz ziviler Instrumente. Um das zu unterstreichen, sollten mehr Außenpolitiker, Diplomaten oder Entwicklungshelfer anhand von konkreten Beispielen über ihre Erfahrungen berichten. Auch die Medien stehen hier in der Pflicht: Außenpolitik darf nicht nur dann stattfinden, wenn es zur gewalttätigen Zuspitzung von Krisen kommt.

Den Wählern sollten drittens auch unbequeme Wahrheiten zugemutet werden. Deutschland war in Afghanistan an einem Kriegseinsatz beteiligt – diese Tatsache wurde lange Zeit nicht offen angesprochen. Die Lücke zwischen politischer Sprache und Wirklichkeit in Afghanistan war am Ende für jedermann offensichtlich. Das schadet der außenpolitischen Glaubwürdigkeit. Dabei gilt auch: Nicht jeder, der Kritik an einem Einsatz übt, verhält sich deswegen gegenüber den Soldaten unsolidarisch. Wenn Außenpolitik wirklich Gegenstand der öffentlichen Debatte werden soll, dann muss kontrovers über die politische Begründung eines Auslandseinsatzes gestritten werden dürfen. Während es in Berlin mittlerweile eine Fülle von Veranstaltungen zur Außenpolitik gibt, herrscht im Rest der Republik oft außenpolitische Sprachlosigkeit.

Außenpolitik sollte daher viertens mit lokalen Multiplikatoren und Politikern im ganzen Land diskutiert werden. Dabei sollte man weniger auf die klassische – teils ermüdende – Paneldiskussion setzen, sondern auf innovative Veranstaltungsformate, in denen das Publikum von Anfang an einbezogen wird.

Fünftens tragen auch die Parteien die Verantwortung, Außenpolitik stärker in den Köpfen der Menschen zu verankern: Die Zahl außenpolitisch aktiver Bundestagsabgeordneter geht seit Jahren zurück. Die Parteien sollten bewusst jüngeren und aufstrebenden Politikern außenpolitische Karrieren ermöglichen. Der Auswärtige Ausschuss darf kein „Abklingbecken“ verdienter Abgeordneter werden, sondern sollte ein Sprungbrett sein für parteipolitische Karrieren.

Ohne die Bundeskanzlerin wird es nicht gehen

Sechstens sollte Deutschland seinen G8-Vorsitz im Jahr 2015 nutzen, um das Land als Veranstaltungsort wichtiger Gipfeltreffen zu etablieren. In den letzten 15 Jahren haben nur zwei große internationale Treffen in Deutschland stattgefunden: Der G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 und die Petersberger Konferenz im Jahr 2001. Würde sich die Bundesregierung verstärkt als Ausrichter internationaler Treffen und Konferenzen anbieten, wäre dies auch ein starkes Signal dafür, dass Deutschland „ownership“ an den dort behandelten Themen anmeldet.

Siebtens: Es ist erfreulich, dass die Frage der internationalen Verantwortung Deutschlands vom Bundespräsidenten und von führenden Kabinettsmitgliedern aufgegriffen wird. Am Ende braucht es aber auch das Engagement der Bundeskanzlerin, um die außenpolitische Diskussion auf eine breitere gesellschaftliche Grundlage zu stellen.

Vor allem aber sind Realismus und Durchhaltevermögen vonnöten. Außenpolitik wird in der Prioritätenliste der Deutschen selten ganz oben stehen. Innen- und sozialpolitische Themen bestimmen den Alltag der Menschen viel unmittelbarer. Es geht deshalb nicht darum, ein Jahr lang ein Strohfeuer von Aktivitäten abzubrennen, sondern um eine dauerhafte Veränderung der Debattenkultur. Dafür braucht es einen langen Atem, politische Leidenschaft, aber auch das Zusammenwirken aller relevanten Akteure, von der Politik über Ministerien bis hin zu Medien, Stiftungen, Think Tanks und Verbänden.

Die aktuelle repräsentative Studie „Einmischen oder zurückhalten“ der Körber-Stiftung ist hier abrufbar.

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